Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
Sammelobjekte wie Münzen, Briefmarken, Schmetterlinge und Bücher als »Kotsymbole«. Der österreichische Psychoanalytiker Otto Fenichel meinte, Sammler würden die zwei Komponenten des analen Konfliktes – erogenes Vergnügen und Angst vor Verlust – auf ihre Sammlungen verschieben. Auch der Deutsche Karl Abraham postulierte, der Sammeltrieb sei regelmäßig ein Ersatz für sexuelle Wünsche. Deshalb würde die Sammelleidenschaft eines Junggesellen auch oft nach der Heirat nachlassen.
Inwieweit lassen sich diese Hypothesen empirisch untermauern? Psychoanalytiker wie Jones und Abraham führten typischerweise keine wissenschaftlichen Untersuchungen im engeren Sinne durch. Die von ihnen zitierten Belege stammten von der Arbeit an der Couch. Ein Doktorand namens Benjamin Lerner, der in den späten 1950 er Jahren an einer kleinen Universität in New York City studierte, scheint einer der ersten Forscher gewesen zu sein, der den möglichen Zusammenhang zwischen Analkonflikten und Sammeltrieb überprüfte. Dafür führte er ein einfaches Experiment durch. Er konfrontierte 15 Briefmarkensammler und ebenso viele Nicht-Sammler mit einer Liste von Wörtern, die Hälfte davon mit analen Bezügen, die andere Hälfte neutral, und bestimmte, wie lange sie brauchten, um Analwörter von neutralen Wörtern zu unterscheiden. Seine Hypothese: Sammler würden auf Wörter mit Analbezug anders als Nicht-Sammler reagieren, nämlich entweder besonders langsam (Abwehr-Effekt) oder besonders schnell (erhöhte Aufmerksamkeit). Seine Hypothese bestätigte sich: Als er die Reaktionszeit der Teilnehmer maß, zeigten sich systematische Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Lerner sah dies als Beleg dafür an, dass die Sammler unter analen Konflikten litten und diese mit Hilfe des Sammelns kompensierten.
Man kann darüber streiten, ob die simple Idee des Experiments für die Originalität oder die Naivität des jungen Wissenschaftlers spricht – man kann es aber eigentlich auch lassen. Mittlerweile wird die These der »Kotsymbole« selbst von vielen Psychoanalytikern nicht mehr zu den Stärken dieser Denkrichtung gezählt. Rolf Haubl, geschäftsführender Direktor des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, sieht sie gar als »Bizarrerie der Freud’schen Theorie« an.
Heute greifen Psychoanalytiker zur Erklärung des Sammeltriebes lieber auf modernere Konzepte wie die Selbstpsychologie von Heinz Kohut zurück. Der in Österreich aufgewachsene Psychiater flüchtete im Zuge der Nazi-Schreckensherrschaft in die USA , wo er eine der wichtigsten Figuren innerhalb der amerikanischen Analytikergemeinde wurde. Scherzhaft nannte er sich selbst manchmal »Mr. Psychoanalysis« – und das war wohl auch nicht ganz falsch. Seine Theorie, die er in den 1960 er und 1 970 er Jahren entwickelte, traf offenbar den Nerv der Zeit. Er reduzierte menschliche Motivation nicht mehr nur auf den von Freud als so zentral angesehenen Sexualtrieb, sondern stellte den Wunsch nach einem gesunden und stimmigen Selbstbild in den Mittelpunkt. Aus dieser »Entthronung der Libido« (Ruth Formanek) ergab sich auch eine ganz neue Sichtweise auf das Sammeln: Es wird nicht mehr als »Sublimierung« analer Konflikte verstanden, sondern als Suche nach einem stabilen Selbst und befriedigenden Kontakten mit anderen.
Empirische Untersuchungen bestätigen diese Perspektive. Besagte Ruth Formanek beispielsweise, eine mittlerweile emeritierte, amerikanische Professorin für Entwicklungspsychologie, führte 1991 eine umfangreiche Studie mit 167 Sammlern durch, in der sie unter anderem nach den Motivationen der Sammler fragte. Tatsächlich konnte sie ihren Gesprächspartnern aussagekräftige Antworten entlocken – aussagekräftiger jedenfalls als ›Ich bin einfach verrückt‹. Die am häufigsten genannten Gründe bezogen sich auf das Selbst, ganz so wie es Kohuts Theorie postuliert. Manche der Befragten empfanden es als eine Art Vitaminspritze für ihr Selbstbewusstsein, wenn sie ein tolles neues Sammelobjekt erstanden, weil sie nun etwas besaßen, das niemand sonst hatte. Für andere stellte das Sammeln eine Möglichkeit dar, sich selbst herauszufordern und sich ihrer Expertise und ihres Wissens zu versichern. Auch als Schutz vor Selbstzweifeln, niedrigem Selbstantrieb und anderen negativen Gefühlen wurde das Sammeln eingesetzt.
Sammeln stützt das Selbst
Wie machtvoll der Zusammenhang zwischen Sammeln und Identität sein kann, erfahre ich, als ich mit Jean Louis Schlim spreche.
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