Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
Der knapp sechzigjährige gebürtige Luxemburger sammelt alles, was mit Ludwig II. von Bayern zu tun hat. Er hat auch zwei Bücher über den märchenhaften König publiziert. Den Kontakt zu ihm habe ich mit Hilfe von Robert Wiezorek geknüpft, jenes Regisseurs aus Kapitel 1 , der fast seinen ganzen Besitz in der Kölner Stadtarchivkatastrophe verlor; er hat den Sammler während einer Filmproduktion kennengelernt. Schlim lebt in München, und ich habe mich mit ihm an einem winterlichen Samstagmittag zum Telefoninterview verabredet.
Es ist immer spannend, mit einem Menschen, den man nicht kennt, zu telefonieren und sich ein Bild von ihm zu machen. Er habe es sich auf seinem Diwan gemütlich gemacht, damit er ganz in Ruhe mit mir reden kann, sagt Schlim und vor meinem inneren Auge taucht eine stilvoll-dekadente Szenerie auf, wie man sie von Barockbildern kennt. Wie ich mir seine Sammlung vorzustellen habe, will ich wissen, eine Frage, die meinen Gesprächspartner zum Lachen bringt. »Auf meinen 140 -Quadratmetern Wohnraum stapelt sich so viel, dass ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll«, sagt er in seiner charmanten Art, die noch die Luxemburger Wurzeln verrät. Dann fängt er doch an aufzuzählen: circa 20000 Postkarten, Tausende Bücher, außerdem Bilder, Autografen, Büsten, Medaillen, Teller. »Fast täglich kommt etwas dazu«, fügt er fast entschuldigend an. Von der Reise nach Paris beispielsweise, von der er gerade zurückgekehrt ist, hat er 20 Kilo Bücher mitgebracht.
Es macht Schlim offenkundig Spaß, über seine Ludwig-Leidenschaft zu sprechen. Von klein an, erzählt er, habe ihn alles Neugotische fasziniert, was er auf die häufigen Besuche in einer neugotischen Kirche am Wohnort der Großeltern zurückführt. Als Jugendlicher sah er bei einem Pariser Straßenmaler das erste Mal ein Bild von Neuschwanstein und war wie elektrisiert. Wie die »Burg aller Burgen« sei ihm das Schloss vorgekommen. Kurz darauf schenkte ihm ein enger Freund eine Ludwig-Biografie und bemerkte »Der ist ähnlich wie du«. Immer stärker wurde der Wunsch, nach Neuschwanstein zu reisen, den er schließlich auch realisierte. Es gelang ihm sogar, mit der Schlossverwaltung eine exklusive Besichtigung zu arrangieren. Als er kam, drückte man ihm den Schlüssel in die Hand und ließ ihn alles selbst erkunden. Es sei ihm vorgekommen, erinnert sich Schlim, als hätte er hier selbst einmal gelebt: »Alles schien mir vertraut. Es war ein coup de foudre , wie man im Französischen sagt, Liebe auf den ersten Blick. Der Ludwig-Virus hatte mich gepackt.«
Was die tiefe Verbundenheit angeht, die er zum Bayernkönig empfindet, hat der Sammler mehrere Theorien. Zum einen versteht er Ludwig als Ersatz für einen vor ihm geborenen Bruder, den er nie kennenlernte, weil er bei der Geburt starb, und den er, seit er denken kann, vermisst. So wie Ludwig, betont er, habe er sich den idealen Bruder immer vorgestellt. Vor allem aber sieht er Ähnlichkeiten zwischen dem verehrten König und sich selbst: Die fangen bei der Physiognomie an (»Ich sehe tatsächlich so ähnlich wie Ludwig aus.«) und reichen bis zu seiner Liebe zu Schwänen und dem Bestreben, das Leben positiv und angenehm zu gestalten. »Philosophie der Parallelen« nennt er diese Idee. Manchmal werde er sogar gefragt, erzählt der Sammler, ob er sich als Reinkarnation von Ludwig verstehe. Er sage dann: »Um Himmelswillen nein, aber als Seelenverwandter.«
Die These von der engen Verbindung zwischen Sammeln und Selbst hat nicht nur in der Psychoanalyse, sondern auch in der akademischen Psychologie Fuß gefasst. Viele der in der Literatur genannten Motive drehen sich um die Frage der Identität und insbesondere die Entwicklung eines positiven Selbstgefühls. Das können wie bei Schlim Aspekte des eigenen Aussehens oder ästhetische Präferenzen sein. Aber eine Sammlung kann dem Selbstverständnis eines Menschen auch auf ganz andere Weise Ausdruck verleihen, wie die folgenden Beispiele zeigen:
◆ Eine ›Karriere‹ als Sammler liefert vielleicht ein wichtiges Betätigungsfeld neben dem Beruf und hilft so, die Selbstdefinition zu entwickeln und zu erweitern. Man kann Talente einbringen, die im Job nicht gefordert sind, oder sich einen Ruf als herausragender Kenner erarbeiten, während man im Büro nur einer von vielen ist.
◆ Eine Sammlung kann dazu dienen, sich von den Eltern oder anderen als mächtig empfundenen Personen abzugrenzen. Der amerikanische Psychiater und Kunsthistoriker
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