Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
»Rosa-Brille-Perspektive« auch auf die eigenen Besitztümer ausdehnt, weil man sie als Teil des Selbst betrachtet. Ebenso wie sich Menschen selbst für intelligenter, charmanter oder flexibler halten, als sie es objektiv betrachtet sind, überschätzen sie auch den Wert, die Ästhetik oder die Praktikabilität ihrer Sachen. Auf das Fahrrad-Beispiel bezogen bedeutet dies: Man nimmt gar nicht wahr, wie klapprig und rostig das Gefährt ist. Sähe man ein ähnliches Rad dagegen bei einem Freund stehen, würde man ihm raten: Versuch das olle Ding loszuwerden, egal zu welchem Preis!
Empirische Untersuchungen belegen, dass auch an dieser Erklärung etwas dran ist. Der Psychologe James Beggan zeigte, dass Testteilnehmer, denen er zu Anfang des Experimentes eine Isolierkanne für Getränke schenkte, diese optisch attraktiver fanden als Teilnehmer, die keinen Isolierbehälter erhielten. In einer anderen Studie schätzten Leute, die bei einer Tombola Dinge gewonnen hatten, die Prämien als wertvoller, hübscher oder praktischer ein als Nicht-Gewinner.
Volkswirte und Psychologen diskutieren noch, welche der beiden Begründungen die relevantere ist. Die Ergebnisse bleiben abzuwarten. Fest steht aber schon jetzt: Die Tendenz, dass wir an unseren Sachen hängen, nur weil es unsere Sachen sind, ist offenbar fest und tief in unsere Psyche eingebrannt. Und die Folgen sind vertrackt: Egal ob wir eine Sache gekauft, geschenkt bekommen oder gefunden haben, egal ob wir sie nie brauchen oder hässlich finden, sobald diese Sache über unsere Türschwelle kommt und Teil unseres Besitzes wird, setzen automatisch machtvolle Beharrungskräfte ein. Kein Wunder also, wenn sich Schubladen, Schränke und Regale wie von selbst zu füllen scheinen.
Professioneller Rat
Es gibt offenbar niemanden, der nicht das Problem sich ständig ansammelnden Krimskrams’ kennt. Selbst im Kloster ist man davor nicht gefeit, wie mir Frater Josef versichert: »Man muss einen Rhythmus finden, die Zelle zu entrümpeln – und auch die Sachen in den Müllcontainer und nicht auf den Dachboden zu schaffen, wo es andere wegräumen müssen.« Der pragmatische Mönch kennt sich mit diesen Dingen erstaunlich gut aus. Er hat, wie er erzählt, das ein oder andere Ratgeberbuch konsultiert und einige der Tipps auch schon mit Erfolg ausprobiert. Zum Beispiel: Alte Sachen legt man ein halbes Jahr in eine Kiste, und was man in der Zeit nicht benutzt, wird weggegeben. Im Kloster gibt es ein Fensterbrett, erzählt er, wo jeder Mönch Dinge, die er nicht mehr braucht, zur freien Mitnahme hinlegen kann.
Wenn sich selbst ein Mönch mit dem Ausmisten befasst, liegt es nahe, dass das Thema auch viele weltliche Menschen umtreibt – und entsprechend hat sich eine ganze Hilfsindustrie entwickelt. Es gibt meterweise Ratgeberliteratur, die sich mit den Herausforderungen des Ausmistens befasst. Titel wie Weg damit! Entrümpeln befreit , Die Kunst des Aufräumens oder Küche, Keller, Kleiderschrank entspannt im Griff versprechen, dem Leser über die Hürden des Loslassens hinwegzuhelfen. Man kann auch Seminare und Volkshochschulkurse besuchen. Oder man engagiert einen persönlichen Aufräumer, der einen lehrt, wie man den Überfluss in den Griff bekommt oder das Entrümpeln gleich ganz übernimmt.
Ich schaue mich in dieser Branche ein bisschen um. Es gibt Ordnungsprofis, die sich auf das How-to, die praktischen Fragen, konzentrieren. Spannender finde ich aber jene, die sich auch in psychologischen Fragen auskennen. Eine solche Expertin ist Irene Alef. Die frühere Cutterin hat eine heilpraktische Zulassung für Psychotherapie, wie ich auf ihrer Website erfahre. Auch ihr Motto ist dort zu finden: ›Nur durch Mut bekommt man Ordnung in sein Leben.‹
Wir treffen uns an einem sonnigen Spätsommertag im Café Samowar in Köln-Sülz. Es ist so warm, dass man draußen sitzen kann. Alef ist eine Frau in mittleren Jahren, mit offenem Gesicht und angenehm ruhiger Stimme. Sie kommt gerade von einem Nachbarschaftsmarkt, erzählt sie, wo sie gerne nach günstigen Klamotten stöbert. Auch das lässige lila Kleid, das sie über einer khakifarbenen Hose und unter einer roten Lederjacke trägt, hat sie dort gekauft. Den Aufräumservice betreibt sie seit gut zwei Jahren. Aufräumen sei eine Tätigkeit, sagt sie, in der sie ganz aufgehen kann.
Ihre Kunden kommen aus unterschiedlichen Gründen. Bei manchen gibt es einen konkreten Auslöser – der Tod eines Angehörigen, Scheidung, Umzug in ein
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