Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
aufhören.« Karlu versuchte, seiner Stimme einen herrischen Befehlston zu geben.
Bastian schüttelte den Kopf. »Hier sagt keiner einem anderen, was er singen darf. Und du schon mal gar nicht.«
Der Fremde neben Karlu hob den Knüppel und machte einen Schritt nach vorne.
Und während Bastian und Hotte einen kurzen Moment nachdachten, wen sie sich als Ersten vorknöpfen sollten, hatte Ralle zu spielen aufgehört, mit einer raschen Bewegung die Gitarre am Hals gegriffen und dem Großen den Korpus an den Kopf gedroschen. Es erklang ein langer hässlicher Ton, als die Gitarrensaiten rissen und das Holz auf dem Nasenbein zersplitterte.
Der große Junge gab einen klagenden Laut von sich, der langsam erstarb, als Ralle ihm in den Unterleib trat. Er klappte wie ein nasser Sack zusammen.
Fatz schoss an Bastian vorbei und fuhr, wild um sich schlagend, Karlu an die Kehle. Hotte machte eine resignierende Handbewegung und wandte sich dem Rest der Truppe zu. Im Nu hingen drei wie Kletten an ihm und Hotte schlug zu.
Minuten später lehnte Bastian an der Bunkerwand und rieb sich die schmerzende Hand. Er blutete aus der Nase, sein Hemd war zerrissen. Hotte spuckte Blut ins Gras. Ralle betrachtete wehmütig seine zertrümmerte Gitarre. Fatz lag schwer atmend im Staub und hielt sich den Bauch. Die HJ -Streife hatte sich in die Dunkelheit verzogen, sie hatten zu viert zupacken müssen, um den Muskelprotz davonzuschleppen.
Um 22:30 Uhr heulten die Sirenen zum ersten Mal. Von jetzt an hatten sie noch eine Viertelstunde bis zum Luftangriff. Bunkerwart Traube brachte einen Stapel Decken und öffnete die Tür. Von allen Seiten begannen Menschen zum Bunker zu strömen. Frauen, Kinder, alte Leute und Männer, die nicht eingezogen worden waren, weil sie kriegswichtige Positionen in den Betrieben innehatten, Soldaten in Uniform auf Heimaturlaub oder auf der Durchreise. Bald hatte sich vor dem Bunkereingang eine dichte Traube gebildet, die nach drinnen drängte. Doch niemand war aufgeregt. Zu oft schon waren sie diesen Weg in die stickige Enge des Bunkers gegangen. Die zermürbende Angst war den Gesichtern anzusehen. Niemand wusste, ob die Wohnung, das Haus, die Straße noch da waren, wenn sie den Bunker verließen. Sie wussten nicht einmal, ob sie den Bunker wieder verlassen würden. Sie hatten Angst vorm Ersticken in der Enge der Mauern. Sie trugen ihre wichtigsten Habseligkeiten in Koffern bei sich. Haustiere und Juden und Fremdarbeiter hatten keinen Zutritt.
»Dann wollen wir mal wieder«, sagte der Bunkerwart, klopfte seine Pfeife am Treppengeländer aus, tippte sich zum Gruß an den Stahlhelmrand und stieg die Treppe hinunter.
»Das ist auch so ein Spinner«, sagte Hotte. »Wetten, dass der noch an den Endsieg glaubt.«
»Lass mal gut sein, Hotte«, sagte Ralle. Sie wussten alle, was mit Hotte los war. Man zog jetzt auch Siebzehnjährige ein. Die wurden von der Wehrmacht geholt, in Kasernen verfrachtet, sechs Wochen ausgebildet. Und dann los auf den Feind. Panzerfaust, Gewehr, Handgranaten. Baltikum, Balkan, Russland, Normandie. Was das bedeutete, wusste jeder. Aber abhauen? Das war nicht Hottes Sache. Und so suchte er krampfhaft nach einer Lösung für sich. Und übrig blieb vorerst nur Wut.
DIE
FLAK
SCHOSS Dauerfeuer, als der Vollalarm losheulte, an- und abschwellende Sirenentöne eine Minute lang. Bastian kapierte sofort, dass das der befürchtete Großangriff war. Der Platz war jetzt beinahe menschenleer. Fast gleichzeitig hörten sie die Bombergeschwader. Das Brummen ging über in ein Jaulen und Brüllen. Eine schwarze, dichte Wolkendecke hing über der Stadt. Scheinwerfer blendeten auf. Ihr Licht blieb unter den Wolken hängen.
»Tür zu«, schrie jemand aus der Tiefe des Bunkers. Bastian ging als einer der Letzten hinein. Er musste als Feuerwehrmann den Überblick behalten.
Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm zwängte sich an ihm vorbei. Sie trug einen Wintermantel, in ihren Augen lag panische Angst.
In Bastians Rücken wurde die Stadt in fast taghelles, unwirkliches Licht getaucht: Die ersten Markierungsbomben, die sogenannten Christbäume, senkten sich an Fallschirmen herab. In unmittelbarer Nähe die ersten Einschläge. Zwanzig, dreißig hintereinander. Bastian spürte den Luftdruck der Explosionen. Es war, als hätte ihm jemand mit der Faust auf die Lungen geschlagen. Er ließ sich auf die hölzerne Bank im Vorraum fallen. Neben ihm hockte Karlu Meisner.
»Na, ihr Armleuchter. Da seid ihr ja wieder«,
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