Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
mürrisch. Karl Ludwig, von allen nur Karlu gerufen, war sein Enkel. Er trug immer die Uniform der HJ , zog einen Bollerwagen hinter sich her und nahm mit, was er schleppen konnte. Wie ein Landsknecht in kurzen Hosen, dachte Paul und musste lächeln. Opa Tesch gab Paul ein warnendes Handzeichen, wenn Karlu auftauchte. Paul verzog sich und ließ sich erst wieder blicken, wenn das Gespann an seiner Parzelle vorbeigerumpelt war.
Opa Tesch stand am Gartenzaun. Karlu zog das große Eingangstor zu. Es schrammte über den Boden, quietschte rostig in den Angeln und schepperte, als es ins Schloss fiel. Der Wind trug das Stampfen einer Dampflok herüber. Über den Bahndamm zog eine schwarze Rauchfahne. Paul hatte sich das Parteiblatt der NSDAP , den Westdeutschen Beobachter, unter den Arm geklemmt und machte sich auf den Weg zum Plumpsklo am Ende des Weges.
»Karlu hat Salz mitgebracht. Das brauchen wir für den Kappes. Wir machen Sauerkraut. Er hat nach dir gefragt und wollte wissen, woher du Bastian kennst«, sagte Opa Tesch, als er sich an ihm vorbeidrückte.
»Und?«, fragte Paul.
»Tja«, murmelte Opa Tesch, »manchmal habe ich so ein komisches Sausen im Ohr. Ich glaube, ich werde schwerhörig bei solchen Fragen. Karlu ist ein Filou oder schlimmer.«
Paul grinste. »Ein Filou? Das ist doch ein Spitzbube, ein Gauner.«
»Ja«, sagte Opa Tesch. »Das ist er. Einer, der es faustdick hinter den Ohren hat. Das liegt in der Familie.«
Paul musste lachen.
»Dann bist du auch einer?«
»Nur wenn es sein muss. Aber für Karlu ist das eine Lebenseinstellung. Er ist unehrlich, wollte ich sagen, und er kriecht den Nazis hinten rein. Sie müssen ihn nicht einmal einladen. Er macht es aus Überzeugung und zu seinem Vergnügen. Aber er ist mein Enkel, der Sohn meiner Tochter. Was kann ich da schon sagen? Und für seinen Vater kann der Junge nichts. Der Kerl ist eine echte Schande.« Opa Tesch seufzte. »Ich versteh bis heute nicht, wie meine Tochter so einen heiraten konnte. Ich wette, die Uniform hat ihr imponiert und das silberne Totenkopfabzeichen auf der Mütze.«
»Du meinst, ich sollte mich vorsehen?«
»Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Ich weiß nicht, was den Bengel antreibt. Aber er ist nun mal, wie er ist. Man wünscht es sich nicht und kann es sich nicht aussuchen. Ich könnte ihm was hinter die Löffel geben. Aber wenn er mich so ansieht, mit seinen hungrigen, traurigen Augen, dann ist das einfach Karlu. Mein Enkel. Seine Oma, die Trude, Trudchen, mochte ihn und ich habe ihn auf den Knien geschaukelt. Ich kann ihn nicht ändern.«
Opa Tesch zuckte die Achsel und stieß seinen Stock in die Gartenerde. Paul legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Schon gut, Opa. Ich seh mich einfach vor und gehe ihm aus dem Weg. Wir wollen ja nicht, dass jemand zu Schaden kommt.«
Manchmal hielt Paul es im Schrebergarten nicht aus. Er schlich sich zur Gärtnerei und kauerte unterhalb des Bahndammes im Schatten der Büsche und sah hinunter. Wenn er Glück hatte, konnte er aus der Ferne Franzi sehen. Das blonde Haar fiel auf ihre Schultern. Sie schob sich eine Strähne hinter das Ohr und trug eine graue, hochgeschlossene Wolljacke, einen schwarzen Rock, dicke Strümpfe und derbe Schuhe.
Er sehnte sich nach dem Geruch ihrer Haut und ihren nackten Schultern. Er sah ihr zu, wie sie Kränze band, innehielt und wie sie jetzt aus der Entfernung lächelte. Er dachte an ihre zufällige Begegnung auf der Rheinbrücke. Und er dachte daran, jeden weiteren Zufall hinzunehmen, wenn er nur diese Geschichte weitergehen ließ. Wenn sie nur nicht aufhörte.
Sein Blick sprang zurück. Weg von Franzi am Bindetisch. Er betrachtete die Gärtnerei. Das Sonnenlicht glitzerte im Glas der Gewächshäuser. Abseits zwischen den Beeten hockten zwei Männer und schaufelten Erde. Auf dem gepflasterten Innenhof spielte ein kleines Mädchen. Eine Frau in einer karierten Schürze schleppte einen großen Tontopf. Das musste Frau Rose sein. Franzis Tante. Sie führte die Gärtnerei. Ihr Mann war bei den Soldaten. Sie trug weite Männerhosen und ihre Füße steckten in Holzpantinen. Ein blaues Kopftuch hielt ihr Haar zusammen.
Franzi hatte Paul Unterkunft und eine Anstellung in der Gärtnerei versprochen, sobald er seinen neuen Ausweis hatte. Paul hatte allerlei Bedenken angeführt und drückte sich vor der Entscheidung.
Dabei ging es nicht um die Arbeit in der Gärtnerei. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Er hatte jahrelang Säcke geschleppt.
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