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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Justin Torres
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gehen.
    Manny kam als Erster dran. Er kehrte schlammverschmiert zurück wie Ma, aber wir rührten uns nicht, um ihm beim Saubermachen zu helfen.
    »Das ist ein Zauberloch«, sagte er grinsend. Er schüttelte sich wie ein Hund und besprenkelte uns mit Matsch. Joel glaubte natürlich kein Wort von Mannys Zauberlochquatsch, aber er blieb lange draußen, länger als Manny, und als er zurückkam, waren seine Sachen sauber.
    »Hast du dich ausgezogen oder was?«, fragte Manny.
    »Klar.«
    »Und?«
    Joel zuckte mit den Schultern. »Kann sein, kann ein Zauberloch sein. Wir werden sehen.«
    Ich hatte es nicht so mit Matsch, und obwohl der Tag schwül und heiß war, dachte ich, der Schlamm in dem Loch müsse kalt sein, und das mochte ich auch nicht besonders, und Würmer – ich konnte einen Wurm sehen, und ich wusste, da waren noch mehr. Ich zog mich aus wie Joel, und als ich nackt war, konnte ich nicht mehr anders, ich musste hineinklettern.
    Es war ein Grab. Es war mein Grab. Paps hatte mein Grab geschaufelt. Das waren meine ersten Gedanken, und als ich ganz drin lag, halb im Pfützenschlamm versunken, schossen mir Geschichten von Menschen durch den Kopf, die lebendig begraben worden waren – Erdrutsche, Schlammlawinen, Ersticken –, aber ich hatte einen Wunsch, also blieb ich liegen, um ihn mir zu wünschen. Ich konnte ein rechteckiges Stück Himmel sehen, umrahmt von den Wänden des Lochs, und dieser Himmel beruhigte mich ein wenig, die Wolken, das Blau; heute würde es nicht mehr regnen. Ich spürte eine große Entfernung vom Haus, von Ma auf der Couch und meinen Brüdern und Paps. Die Wolken schienen sich schneller zu bewegen als je zuvor, und wenn ich mich konzentrierte, wenn ich nur weit genug losließ, würde ein Verständnis in mir aufsteigen, und ich konnte meinen Körper täuschen, ich würde mich bewegen, und die Wolken standen still – und dann war ich mir sicher, ich bewegte mich, und das Loch war ein Zauberloch. Ich schloss die Augen und blieb still und rührte mich nicht, aber ich spürte die Bewegung, manchmal sank ich, manchmal schwebte ich davon, dehnte mich aus oder schrumpfte. Ich ließ zu, jeden Anker zu verlieren, und es verging sehr viel Zeit, bevor ich mir meinen Wunsch erfüllte.
    Ihr Lachen holte mich zurück. Alle vier, Ma und Manny und Joel und Paps, wuchsen aus dem Schlamm über mir und wiegten sich vor Lachen wie Bäume. Meine Brüder packten sich an den Schultern und schüttelten und zeigten auf mich, weinten vor Lachen und sagten: »Schaut euch den mal an, schaut doch mal! Schaut euch mal das Baby an!«
    Und Ma meinte, es sei okay. »Komm raus aus dem Schützengraben«, sagte sie.
    Und Paps beugte sich vor und streckte die Hand aus, um mir zu helfen; er erklärte mir, der Krieg sei vorüber.

Mülldrachen
    W ir gingen meilenweit, wir drei, kickten Schotter, schleiften Stöcke hinter uns her. Wir hatten uns davongeschlichen; wir suchten die Freiheit. Über uns ragten Äste in die Schatten, und der Himmel wurde dunkel, wickelte sich in ein Tuch aus dunklem Purpur. Es wurde kälter, und Joel und ich fragten uns laut, ob wir nicht vielleicht umkehren sollten.
    »Das ist doch ein guter Weg«, sagte Manny, »alles bestens, wir sind sicher.«
    Wir stießen auf ein leeres Feld, warfen unsere Rucksäcke ins Gras und errichteten unser Lager. Der Wind peitschte uns um die Ohren und riss Manny einfach eine Plastiktüte aus der Hand. Er hielt das für ein Zeichen und wühlte in unseren Vorräten herum, bis er eine große, dicht gewickelte Rolle Bindfaden und drei schwarze Plastiksäcke hervorzog. Wir machten uns Drachen: Müllsäcke an Bindfäden. Wir rannten, rutschten aus, die Knie unserer Jeans waren grasfleckig, wir standen auf, rannten, erstickten halb vor Lachen, aber wir nahmen Fahrt auf, und unsere Mülldrachen hoben ab. Wir ließen sie vielleicht eine Stunde lang fliegen, bis der Tag ganz in der Nacht verschwand und sich alles Licht zurückzog, übrig blieben die Sterne und ein Fußnagelsplitter Mond und die Drachen schwarz auf schwarz. Dann ließen wir sie los, unsere Mülldrachen flogen wirklich davon – hoch und weit, himmelwärts, wie Gebete, und unsere Herzen jagten hinterher.
    Paps kam knirschend die Straße entlang, die Suchscheinwerfer waren an – unsere Schlafsäcke und Rucksäcke und unsere beschirmten Gesichter wurden alle vom Licht eingefangen.
    »Scheiße«, sagte Manny, »wir hätten im Wald schlafen sollen.« Aber wahrscheinlich hätte Paps uns sowieso erwischt. So war er; er

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