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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
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um bloß keine Zuneigung zu diesem Menschen zu fassen. Schließlich weiß ich nie, ob ich den Betreffenden nicht irgendwann umlegen muss.
    »Und was wäre sie für ein Gemälde?«, frage ich ihn amüsiert.
    »Oh, ein modernes, Kälte ausstrahlendes, perfekt gemaltes … obwohl … nein, sie wäre kein Gemälde, sie wäre ein gut retuschiertes Foto. Oder eine Videoinstallation. Oder ein computergenerierter Spezialeffekt. Man sieht keinen einzigen Pinselstrich bei ihr. Bei einer schönen Frau kommt es aber gerade auf die Pinselstriche an.«
    Lächelnd nicke ich, weil ich seiner Meinung bin, auch wenn ich es nie so hätte ausdrücken können – und weil er sie im Grunde genau so beschrieben hat, wie dies auch die frühere Nummer Drei getan hätte, nur mit derberen Worten.
    Der alte Herr streckt mir die Hand entgegen.
    »Andrés Camilleri«, stellt er sich vor.
    »Juan Pérez Pérez.«
    Er lädt mich auf einen Drink ein, und da Yolanda immer noch nicht aufgetaucht ist, nehme ich gern an.
    Vom Tresen aus beobachten wir dann gemeinsam unsere Campingnachbarn.
    »Ist Ihnen aufgefallen, dass dieselben Leute, die sich tagsüber mit geheuchelter Unschuld anlächeln, sich jetzt, da wir alle angezogen sind, nicht ungezwungen in die Augen sehen können?«
    Während wir an den einzelnen Grüppchen vorbeischlendern, blicke ich mich um und stelle fest, dass er recht hat. Alle mustern sich nur ganz verstohlen, besessen von dem Versuch, sich daran zu erinnern, wie ihr Gegenüber noch Stunden vorher nackt ausgesehen hat, wer angezogen besser wirkt und wer nicht. Auch Camilleri und ich bilden da keine Ausnahme. Dieser Frau Ende dreißig, die einen Großteil des Vermögens ihres hageren Ehemannes in Schönheitsoperationen investiert hat – mit einer exzellenten Rendite, wie ich heute Nachmittag gesehen habe –, stand das Evakostüm beispielsweise tausendmal besser als das rote Abendkleid, das sie nun zu der Party trägt. Gerade echauffiert sie sich darüber, dass eine der Angestellten sie am Nachmittag darauf aufmerksam gemacht hat, dass auf einem FKK-Gelände das Tragen von Unterwäsche nicht erlaubt ist.
    »Das ist absolut lächerlich!«, sagt sie zu einer Gleichgesinnten. »Wie Gott uns schuf, darf man hier herumlaufen, aber nicht in einem entzückenden Tangaslip mit dazugehörigem BH. Er ist von Valentino! Wenn ich nur daran denke, was der gekostet hat …«
    Camilleri und ich bummeln weiter, denn der Preis ihrer Dessous interessiert uns nicht. Ich nutze die Gelegenheit, um mich nach den Bodyguards des Richters umzusehen. Vergeblich. Es ist schwieriger, als ich dachte. Ich entdecke keine besonders wachsamen Blicke, nur die immer gleiche Neugier in den Augen aller Gäste.
    Mit unseren Gläsern treten wir auf die Terrasse hinaus und gehen ein paar Schritte, ohne uns absprechen zu müssen. Eigentlich will ich ja auf Yolanda warten, aber eine innere Stimme drängt mich, Camilleris Gesellschaft zu genießen, und beruhigt mich, dass die Animateurin mich garantiert suchen geht, sollte ich länger wegbleiben.
    Andrés Camilleri ist emeritierter Professor. Laut lacht er auf, als ich darauf tippe, dass er einen Lehrstuhl für Kunst innehatte.
    »Nein, mein Lieber, nein. Die Kunst ist nur eine Liebhaberei, der ich mich erst seit einigen Jahren widme; man beginnt genauer hinzusehen, wenn die Kräfte schwinden. Nein, ich war Literaturwissenschaftler.«
    » War? Die Leidenschaft für Literatur lässt einen doch vermutlich nicht los, wenn man in den Ruhestand geht, oder?«
    »Sie haben recht, Juan, sie lässt einen nicht los. Aber ich habe mein Leben lang versucht, Generationen von jungen Leuten dafür zu begeistern. Die haben es jedoch heutzutage immer eiliger, ihren Abschluss zu machen, um das Gelernte entweder so schnell wie möglich zu vergessen oder um ihre Vorbilder mit ihrem allerersten Roman gleich zu überflügeln. Offenbar glauben viele, dass das Einzige, was man mit so einem Studium anfangen kann, das Schreiben ist, und vergessen, dass man zum Lesen genauso viel, wenn nicht gar noch mehr Begabung braucht. Vor meiner Emeritierung war die Literatur mein Ein und Alles. Jetzt …«
    »Jetzt?«
    »Jetzt schreibe ich Bücher.«
    Mit einem traurigen Blick lässt er die Schultern hängen, um gleich darauf in mein schallendes Gelächter einzufallen, und als wir uns wieder beruhigt haben, erzählt er mir, dass er seit über zehn Jahren Krimis verfasst, mit mehr Erfolg, als ich verdient habe, und mehr Talent im Nachahmen der Meister als der

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