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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
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Bordell-Stammgast mehr vor sich, sondern einen einfühlsamen Architekten oder ausgemachten Gourmet. Allen anderen gegenüber gab er sich als der einfach gestrickte, brutale Fremdenlegionär, der er in seiner Jugend gewesen war.
    Ich habe mich oft gefragt, warum er sich mir gegenüber so anders verhalten hat. Aber das einzige Mal, dass ich ihn darauf anzusprechen wagte, erwiderte er nur:
    »Wenn du noch mal so eine hirnrissige Bemerkung vom Stapel lässt, bringe ich dich um. Und zwar gratis.«
    Eine Minute später traten ihm vor einem Gemälde von van Gogh die Tränen in die Augen.
    »Dieses Gelb … Wie hat der Teufelskerl das bloß hingekriegt?«, murmelte er verzückt.
    Sieben Jahre ist das nun schon her, dass ich für diesen Auftrag im Louvre monatelang Kunstgeschichte büffelte. Zwei Wochen vor dem Termin schleuste man mich als Führer in das Museum ein, damit ich mich am fraglichen Tag dort gut zurechtfand. Ich sollte einen plötzlich erkrankten Kollegen vertreten, und am Ende ging ich so in meiner Rolle auf, dass die frühere Nummer Drei mich zur Ordnung rufen musste.
    »He, Doc, hast du vor, den Beruf zu wechseln, oder was? Wenn du den Leuten etwas über die Bilder erzählst, hört es sich an, als wärst du damit groß geworden …«
    Am Nachmittag, an dem ich meinen Auftrag zu erledigen hatte, betrat ich den Louvre als ganz gewöhnlicher Tourist. Ich hatte nur die Gesichtsform und die Haarfarbe leicht verändert, gerade genug, um nicht mit meiner vorigen Persönlichkeit in Verbindung gebracht zu werden.
    Mein »Kunde« musste jemand Bedeutendes sein, denn er stand allein vor der ›Mona Lisa‹, um die sich normalerweise mehr Japaner versammelten als bei einem internationalen Karaoke-Wettbewerb. Ich musste ihn nur mit einem winzigen Pfeil treffen, dessen tödliche Wirkung sich erst nach einer Stunde zeigen würde. Doch als ich schon zur Tat schreiten wollte, ging mir auf, wie sehr ich das Gemälde bewunderte, und Tony kam mir in den Sinn. Und ich bekam kalte Füße: Ich fürchtete, danebenzuschießen, sodass der Pfeil sich in den Hals der Mona Lisa bohren würde anstatt in den des Waffenhändlers – oder was immer er auch war –, der sie so begehrlich ansah, als wäre sie eine käufliche Nutte. Ohne lange zu überlegen, löste ich deshalb den Pfeil aus dem als teuren Kugelschreiber getarnten Luftgewehr, fasste ihn ganz vorsichtig am Ende, an dem er vermutlich frei von Gift war, und ging damit rückwärts auf den »Kunden« zu, wobei ich so tat, als wollte ich das gewaltige Gemälde auf der gegenüberliegenden Seite des Saals in seiner ganzen Pracht bewundern. Einen halben Meter vor ihm stolperte ich dann so über meine eigenen Füße, dass ich mich einmal um meine eigene Achse drehte und im Fallen seine Hand streifte. Sofort wollten sich vier als friedliche Touristen getarnte Gorillas auf mich stürzen, aber ich hatte bereits mein einfältigstes Juanito-Pérez-Pérez-Gesicht aufgesetzt, weshalb der Typ sie mit einem herrischen Wink stoppte. Unbewusst rieb er sich den Kratzer an der Hand, während er mir aufhalf.
    »Machen Sie die Augen auf, Sie Tollpatsch!«, herrschte er mich an und deutete auf da Vincis Gemälde. »So wie sie.«
    Auch Nummer Drei hatte das Gemälde gegenüber der ›Mona Lisa‹ bewundert. In meinem Hotelzimmer setzte er mir dann eine Pistole mit Schalldämpfer an die Schläfe.
    »Erklär mir, warum du das getan hast. In einem kurzen, knackigen Satz. Wenn du mich nicht überzeugst, bringe ich dich um!«
    »Das Gemälde hätte beschädigt werden können.«
    Da ließ er die Pistole sinken und brach in schallendes Gelächter aus.
    »Okay, das kann ich verstehen, mein Junge. Mich macht Mona Lisas geiles Grinsen auch ziemlich an. Aber in Zukunft lässt du diese Spielchen, verstanden? Und noch was: Ich will dich nie wieder mit einer so lächerlichen Perücke sehen.«
    Ich hatte rote Haare. Wie Vincent van Gogh.
    »Was ist mit van Gogh?«, fragt Yolanda verwirrt.
    Ich muss meinen letzten Gedanken wohl laut ausgesprochen haben. Keine Ahnung, warum mir ausgerechnet jetzt all diese Dinge einfallen, nachdem ich jahrelang nicht mehr daran gedacht habe. Aber Yolanda wartet auf eine Antwort, und sie bekommt sie in Form eines Kompliments.
    »Ich habe gerade gedacht, dass er mir leidtut, weil er keine Gelegenheit hatte, dich zu malen.«
    Lachend verzeiht sie mir meine kurzfristige Unaufmerksamkeit. Sie ist clever und wird wissen, dass ich das nur gesagt habe, um mich elegant aus der Affäre zu ziehen.

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