Wir toeten nicht jeden
großen Stein in der Mitte und lässt mir neben sich Platz.
»Dieser Ort hier, Antonio, ist jetzt dein Geheimnis. Erzähl nur demjenigen davon, der etwas Besonderes für dich ist. Etwas ganz, ganz Besonderes.«
»Und woher weiß man das, Papa?«
»Das weiß man nicht, Antonio, das spürt man. Manchmal täuscht man sich allerdings auch.«
Danach reden wir eine geraume Weile kein Wort und schauen aufs Meer hinaus. Bis ich ihn ansehe und etwas frage, obwohl ich die Antwort längst kenne.
»Wie sind wir, wenn wir anders sind, Antonio?«
»Das weißt du, Papa, du musst es wissen. Gestern Abend, als ich mit einem Haufen Kinder draußen auf der Terrasse spielte, habe ich auf einmal gemerkt, dass bei euch Erwachsenen was Besonderes los ist. Die Leute hatten einen Kreis um jemanden gebildet und applaudierten begeistert. Weil ich auch sehen wollte, was sie so bewunderten, hab ich mich ins Restaurant geschlichen und unauffällig nach vorn gedrängelt. Und da sah ich dich. Du hast mit Yolanda getanzt. Aber das warst nicht du … Oder vielleicht ja doch … Ich habe es echt nicht verstanden, Papa.«
»Du hast es sehr wohl verstanden, Antonio. Weil du dich auch hin und wieder so fühlst.«
Er sieht mich überrascht an, noch viel überraschter als bei der Entdeckung der Höhle, und nickt dann bedächtig.
»Ja, du hast recht. Wenn auch nicht oft. Wenn wir in der Schule Fußball spielen. Oder wenn ich ohne Leti neue Kinder kennenlerne, die nichts von mir wissen. Dann überkommt mich manchmal das Gefühl, dass ich tausend Tore schießen, mich mit dem Größten von allen prügeln oder das Mädchen ansprechen kann, das mir gefällt«, sagt mein Sohn mit leuchtenden Augen und seufzt dann auf. »Ich weiß bloß nicht, wie ich’s anstellen soll.«
»Genau so, wie es dir dein Gefühl sagt, mein Junge.«
»Aber es ist, als dürfte ich das gar nicht, weißt du? Schließlich verspricht sich niemand irgendwas von mir. Und außerdem: Was, wenn es schiefgeht?«
»Dann wird es noch andere Tore geben, auf die du zielen kannst, Prügeleien mit anderen Jungs und womöglich noch tollere Mädchen. Immer. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, Antonio. Du hast mich vorhin nach den Männern in unserer Familie gefragt. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Ich weiß nur ein paar Dinge, die man mir von ihm erzählt hat, nichts, was er selbst erlebt hat. Als Kind wäre ich jedenfalls auch gern stolz auf ihn gewesen, ich hätte zu gern den großartigsten, mutigsten Papa von allen gehabt. Aber er war nicht da.«
»Du bist schon hin und wieder da«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Aber ich habe nichts davon.«
Was soll ich darauf erwidern, wie ihm erzählen, was ich mir selbst nicht eingestehe? Am besten bin ich still und betrachte die Wolken und das Meer. Soll mein Schweigen doch die Antwort sein …
Aber ich entscheide mich anders.
Wie lange habe ich von Tony, von der Baulücke hinter der Schule, vom Retiro geredet? Ich weiß nur, dass ich ihm nichts von meinem zweiten Beruf erzählt habe, das verhindert unser mentales Training, bestimmte Wörter unterbinden jegliches Geständnis, das unter der Einwirkung von Drogen, Alkohol oder Hypnose von uns erzwungen werden könnte. Wir Killer der FIRMA können nur mit voller Absicht gestehen. Aber es würde uns eh niemand glauben.
Doch auch so sind meine Worte bei meinem Sohn angekommen, er sieht mich anders an, mit neuem, verändertem Mitgefühl. Er bedauert nun nicht mehr Juanito, der ihm eine schreckliche eigene Zukunft vorlebt. Jetzt bedauert er Nummer Drei, ohne zu wissen, wer er wirklich ist oder was er getan hat.
»Das hab ich nicht gewusst, Papa.«
»Das ist nun unser Geheimnis, mein Sohn, so wie diese Höhle. Aber ich muss noch auf deine Frage antworten, deine eigentliche Frage: Ja, Antonio, man kann auch anders sein. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem es in dir zu eng wird für die beiden Antonios und du dich entscheiden musst. Du ganz allein. Deshalb habe ich gestern Abend so getanzt, deshalb Yolanda – und deshalb auch zum Teufel mit dem Handy und den Befehlen anderer Leute. Von nun an entscheide ich. Ich allein.«
Mein Sohn nickt gewichtig, er glaubt mir, obwohl er meine letzten Sätze sicher nicht begriffen hat. Voll Stolz, dass sein Vater sich ihm anvertraut hat, steht er auf und reicht mir die Hand.
»Weißt du was, Papa?«, sagt er, während wir den Felsrücken hinunterklettern, »ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du es schaffen wirst.«
Wenn ich mir da nur auch so
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