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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
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und meinen Sohn. Und das signalisiert mir, dass hier etwas Außergewöhnliches vor sich geht.
    »Kann ich mal mit dir reden, Papa?«, sagt er und springt auf. »Was hast du mit deinem Auge gemacht?«
    »Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?«
    »Die erste«, erwidert er mit einem Ernst, der keinen Aufschub duldet.
    Ich nicke, und wir gehen in die Cafeteria. Zwei Kugeln Eis für ihn, Kaffee für mich. Und zwei Aspirin.
    »Jetzt sehe ich aus wie ein Pirat, stimmt’s, Antoñito? Zumindest fast …«
    »Ja, Papa, fast.«
    Ich schrecke zusammen. Nicht wegen des Tonfalls, der noch ganz kindlich ist und dem gleicht, den Leti mir gegenüber anzuschlagen pflegt, sondern wegen der Erkenntnis, dass ich automatisch wieder zu Juanito Pérez Pérez geworden bin, dass ich, wenn ich mit meinem Sohn spreche – was selten genug der Fall ist –, mich hinter Juanito verstecke, als wäre seine Persönlichkeit ein Luftschutzbunker, der mir Schutz bietet, wenn ich vom Leben bombardiert werde.
    Und ich schrecke noch mal zusammen, nun schon zum wiederholten Mal in den vergangenen Stunden, als mir klar wird, dass ich den Wechsel zwischen meinen beiden Persönlichkeiten nicht mehr bewusst vollziehen kann. Und das ist besorgniserregend.
    Noch besorgniserregender ist allerdings Antoñitos Gesichtsausdruck, der mich schweigen lässt, bis die Bedienung unsere Bestellung gebracht hat.
    »Sind wir immer so, Papa?«, fragt er dann mit ernster Miene. »Oder können wir auch anders?«
    »Wer, wir?«
    »Na wir. Die Männer in unserer Familie.«
    Trotz seiner jungen Jahre klingt das Wort »Männer« aus seinem Mund nicht zu gewaltig.
    »Was meinst du mit anders, Antoñito?«
    »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«
    »Klar.«
    »Ich hasse es, wenn man mich Antoñito nennt. Das finde ich überhaupt nicht lustig, Papa. Ich halte meistens den Mund, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, aber wenn jemand mich Antoñito nennt, ist es, als würde er mich nicht ernst nehmen … Verstehst du das?«
    »Ja natürlich. Aber warum hast du dich nicht schon eher darüber beschwert?«
    »Wozu? Es würde doch sowieso niemand auf mich hören … Außer vielleicht Sven.«
    »Sven?«
    »Ja. Der Bademeister. Er ist sehr nett zu mir. Er hat mir beigebracht, vom Sprungbrett zu springen, und stellt mir viele Fragen über dich, Mama und Gaspar. Allerdings nennt er mich auch Antoñito, weil Leti mich ihm so vorgestellt hat. Wenn ich es ihm aber sagen würde, würde er mich bestimmt verstehen. Ich traue mich bloß nicht …«
    Sven.
    Darum kümmere ich mich später. Jetzt nicht. Schweigend denken wir eine Weile über das Thema nach, während der Kaffee und das Aspirin mich munter machen und das Eis meines Sohnes zu einem See von undefinierbarer Farbe zerschmilzt.
    »Weißt du was?«, sage ich schließlich. »Mich nervt es auch, dass mich alle Welt Juanito nennt.«
    Doch statt uns näherzubringen, wie ich mir das eigentlich erhofft hatte, trennt uns das Eingeständnis. Und ich ahne auch, warum, plötzlich ist es mir klar. Die Strafe, die ich mir damals nach dem Unfall hinter der Schule auferlegt habe, hat sich auch auf diejenigen ausgewirkt, die ich liebe: Leticia, die sich betrogen fühlte, weil sie sich in einen Piraten verliebt hatte, aber mit einem mittelmäßigen Pharmavertreter zusammenleben musste; meine Tochter, die das getreue Abbild ihrer Mutter ist und folglich dieselben Abneigungen und Sehnsüchte hat; und meinen Sohn, weil sein Vater ihm kein leuchtendes, sondern nur ein bemitleidenswertes Vorbild ist. Wenn ich tatsächlich bloß Juanito Pérez Pérez wäre, dann müsste er sich damit abfinden. Aber ich bin nicht so. Nur: Wie bin ich wirklich?
    »Komm mit, Antonio«, sage ich deshalb entschlossen und stehe auf.
    Wortlos folgt er mir, und erst als ich am anderen Ende des Campingplatzes den schmalen Pfad einschlage, der hoch zu dem schroffen Felsrücken führt, fragt er, wohin wir eigentlich gehen.
    »An einen geheimen Ort, Antonio. Jeder Mann braucht so einen. Und wahrscheinlich auch jede Frau, aber da bin ich mir nicht ganz so sicher.«
    Obwohl ich oben auf dem Felsvorsprung die gleiche Nummer mit ihm abziehe wie Camilleri ein paar Stunden zuvor mit mir, kommt es mir so vor, als sehe ich die Höhle zum ersten Mal.
    Gemeinsam mit meinem Sohn. Mit Antonio.
    Aufgeregt klettert er vor mir hinauf aufs Plateau und erkundet die Höhle. Er scheint zu wissen, was es mit diesem Ort auf sich hat, denn noch bevor ich etwas sage, setzt er sich auf den

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