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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
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glaube ich das.
    Camilleri sieht mich nun einen endlosen Augenblick lang an. Völlig verblüfft.
    »Ihre Geschichte ist so absurd, dass sie zum Bestseller werden könnte, Juan. Ich meine, sie hat wirklich Potential. Einmal abgesehen von den offensichtlichen Parallelen zu Ihrem Leben: Wenn ich Psychologe wäre, was ich Gott sei Dank nicht bin, hätte ich einen Heidenspaß dran, die Übereinstimmungen herauszufinden. Wissen Sie noch, was ich vorhin über die Erinnerung und das Schreiben sagte? In der kritischen, mit unzähligen Zweifeln gespickten Lebensphase, in der Sie sich gerade befinden, überdenken Sie nicht, was mit Ihnen los ist, sondern schreiben eine Geschichte. Auch wenn Sie sie nicht wirklich niederschreiben, sondern sie nur in Ihrem Kopf existiert. Und darin findet sich alles wieder: Ihre Schuldgefühle, Ihre gescheiterte Ehe, die Distanz zu Ihren Kindern und sogar eine neue Liebe, durch die sich alles vielleicht noch zum Guten wendet. Alles andere, der Auftragskiller als Protagonist und der spannende Plot, dienen Ihnen dazu, die grau in grau gemalte Realität nicht zu nahe an sich rankommen zu lassen. Sie müssen diesen Roman zu Papier bringen, mein Lieber! Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen dabei.«
    »Ich kann die Geschichte nicht aufschreiben, Professor. Ich weiß noch gar nicht, wie sie endet.«
    Wir trinken beide einen großen Schluck aus unseren Gläsern.
    »Hm, das ist der heikle Punkt, mein lieber Juan. Nach allen Regeln der Kunst müsste Ihre Nummer Drei nämlich am Ende sterben.«
    »Warum?«
    »Weil er fünfzehn Menschen auf dem Gewissen hat. Dafür muss man in der Literatur immer büßen. Ja, wenn Ihr Killer ein richtiger Bösewicht wäre, das heißt eine negativ angelegte Nebenfigur, dann könnte er mit dem Leben davonkommen. Aber der Protagonist? … Das riecht nach Showdown mit Leiche.«
    Offenbar mache ich nach dieser Eröffnung einen ziemlich geknickten Eindruck, denn er lächelt mitleidsvoll. Doch plötzlich leuchten seine Augen auf.
    »Obwohl … wissen Sie was? Zum Teufel mit den Regeln unserer Zunft! Retten Sie ihn, finden Sie einen Ausweg und ein neues Leben für Ihren Protagonisten. Das sind Sie ihm schuldig, Juan, schließlich haben Sie ihn erschaffen.« Der Professor runzelt nachdenklich die Stirn. »Aber das muss sich natürlich aus der Handlung heraus entwickeln. In einem Roman geschieht nämlich alles immer aus einem ganz bestimmten Grund. Genau wie im wirklichen Leben. Nur dass man den Grund da für gewöhnlich nicht erfährt. Ein fiktionaler Text, und insbesondere so ein spannender Plot, wie Sie ihn sich gerade ausdenken, kommt hingegen nicht ohne Motiv aus. Darauf sollten wir uns bei der Frage nach den verdächtigen Personen konzentrieren: Also, wer könnte der Schuft sein, der dem Protagonisten die tödliche Falle gestellt hat?«
    »Ich … ich habe nicht die … die leis… leiseste Ahnung, Camilleri«, stammele ich, nun schon ziemlich beschwipst.
    »Wenn Sie bescheidene Hilfe für die Weiterentwicklung Ihres Plots annehmen wollen: Ich würde ihn unter den scheinbar völlig Unschuldigen suchen. Da sind oftmals die schlimmsten Verbrecher zu entdecken.«
    »Spre-sprechen Sie bitte weiter, Professor.«
    »Nun, da gibt es zum Beispiel diesen wiedergefundenen Freund, für dessen trauriges Schicksal Ihr Killer verantwortlich ist. Wer sagt Ihnen, dass dieser Freund nicht herausgefunden hat, wem er Augenklappe und Beinprothese verdankt? Oder wie wär’s mit der Exfrau? Schließlich hat der Protagonist ihr jahrelang was vorgemacht. Vielleicht ist sie ihm auf die Schliche gekommen …«
    »Das finde … das finde ich, mit Verlaub, völlig abwegig. Die FIRMA annonciert doch nicht in der Zeitung! Und Nummer Drei und seine Kollegen erledigen ihre Aufträge äußerst diskret. Nein, das ist viel … komplizierter.«
    »Und wenn es der Rich…, äh, ich meine, dieser großherzige Gerichtsarzt ist, der in Ihrem Roman der neue Freund Ihrer Frau ist? Bei solch moralisch integren Figuren rechnet man meistens am wenigsten damit …«
    »Ich weiß nicht … ja, das ginge schon, aber in einem Roman muss es doch eigentlich auch eine durchweg positiv besetzte Figur geben, oder nicht?«
    »Die Freundin. Die neue Freundin, Juan. Es sei denn – sie ist die Böse.«
    Mit der Bestimmtheit eines scheinbar gnadenlos Betrunkenen erhebe ich vehement Einspruch. Was Camilleri mit einem lauten Lachen quittiert, in das ich glücklich einstimme. Ich schlage vor, aufzubrechen, aber er findet, wir

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