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Wir toeten nicht jeden

Wir toeten nicht jeden

Titel: Wir toeten nicht jeden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Salem
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will, hüpft er einfach darüber, als wäre es ein Seil und das Leben ein Kinderspiel.
    »Mama würde das, was ich dir erzählen will, nicht verstehen.«
    »Und warum glaubst du, dass ich das kann?«
    »Weil ich mir das ganz doll wünsche, Papi.«
    »…«
    »Weißt du, dann und wann fahre ich mit der U-Bahn ins Zentrum, ohne dass Mama davon weiß. Ich schwänze dafür den Unterricht; ich bin ja eine gute Schülerin, da fragen sie nicht groß nach. Oder ich erzähle Mama, ich hätte mich mit Freundinnen fürs Kino um die Ecke verabredet. Natürlich mache ich das nur tagsüber, hab keine Angst …«
    »Ich hab keine Angst um dich, Leti. Und warum tust du das?«
    »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, um mal allein zu sein. Und um Leute zu beobachten. Ich setze mich an eine Bushaltestelle oder in ein Straßencafé, schaue mir die Leute an und studiere ihr Verhalten. Manchmal folge ich ihnen auch unauffällig. Es ist keine Neugier, es ist wie … wie …«
    »… wie wenn man sich einen Film im Kino anschaut?«
    »Ja genau! Ich wusste, dass du mich verstehst, Papi.«
    »Da bin ich mir nicht so sicher, Leti …«
    »Doch, du weißt genau, wovon ich rede. Du tust das nämlich auch. Ich habe dich gesehen.«
    »…«
    »Beim ersten Mal war es reiner Zufall. Du kamst aus einem Haus in der Calle Serrano. Ich stand an der Ampel auf der anderen Straßenseite, und mir blieb fast die Luft weg. Du warst nämlich nicht so, wie ich dich kannte. Du hattest einen anderen Gang, ja sogar einen anderen Blick. Aber du warst es. Ein andermal wollte ich dich in deinem Apartment besuchen. Du hast mich nicht gesehen, als du aus der Haustür getreten bist, und da bin ich dir gefolgt. Du warst so wie immer. Bis du ein Bürohaus betreten hast.«
    »Na ja, Leti, für die Arbeit muss man manchmal …«
    »Du hattest auf einmal andere Haare, Papi. Du bist eine Straße vorher kurz in ein Lokal gegangen, und als du wieder rauskamst, warst du plötzlich blond. Danach habe ich dich aus den Augen verloren, denn wenn du ein anderer bist, gehst du viel schneller als sonst.«
    »Hast du schon oft hinter mir herspioniert, Leti?«
    »Nein, bloß ab und zu. Nur wenn ich Lust hatte, den neuen Film eines Regisseurs anzusehen, den ich mag.«
    »Freut mich, dass du mich magst.«
    »Mich auch. Aber keine Angst, ich stelle dir keine Fragen, Papi. Ich wollte nur, dass du weißt, dass du mir gegenüber nicht den konventionellen Vater spielen musst. Du hast ein Geheimnis, und das respektiere ich. Und ich habe dir gerade meins erzählt. Jetzt sind wir auf gleicher Augenhöhe, und ich kann mit dir reden.«
    »Okay … Und worüber willst du mit mir reden?«
    »Ich werde Ärztin.«
    »Aha.«
    »Bitte nicht in diesem Ton, Papi. Ja, ich will Ärztin werden. Aber nicht, um meinem selbstgefälligen Großvater oder meiner eingebildeten Mutter eine Freude zu machen. Und auch nicht, um den Traum zu leben, den du irgendwann aufgegeben hast, deinen Traum. Nein, ich werde Ärztin, weil ich das will.«
    »Das ist die beste Einstellung, die man überhaupt haben kann, Leti.«
    »Bald werde ich fünfzehn. Wenn ich mich anstrenge, kann ich mit dreiundzwanzig das Studium beendet haben. In etwa zehn Jahren habe ich mein Ziel also erreicht. Vielleicht ja auch schon früher.«
    »Eine ganz schöne Herausforderung.«
    »Ja, aber ich denke, wenn ich alles gut plane, ist das sicher zu stemmen. Und das führt zu dem, was ich dir erzählen wollte.«
    »…«
    »Zum Sex.«
    »Zum … Sex?«, stottere ich völlig perplex.
    »Ja, Papi, zu dem, was du mit Yolanda machst und vielleicht ja auch mit der einen oder anderen Frau, mit der ich dich habe flirten sehen, wenn ich dir nachspioniert habe und du nicht du gewesen bist. Im Flirten bist du übrigens ein Ass. Das kannst du mir echt glauben, schließlich bin ich eine Frau.«
    »Danke, Leti. Aber wir sprachen gerade von dir.«
    »Stimmt. Also … also eigentlich wollte ich meine Unschuld mit achtzehn verlieren. Weil mir dann keiner mehr dreinreden kann. Wenn ich ungewollt schwanger würde, bräuchte ich nicht mehr eure Erlaubnis für eine Abtreibung.«
    »Klingt erst mal vernünftig.«
    »Natürlich. Aber gestern habe ich mich umentschieden. Ich sehe, wie gesagt, viel Straßenkino. Und weißt du, was ich da beobachtet habe? Wenn die Mädchen mit dem Sex anfangen, verdummen sie irgendwie und verwechseln Triebe mit Liebe. Und mit achtzehn, wenn man mit dem Studium anfängt, ist das ein Problem. All das Neue auf einmal: Da wird man bestimmt noch

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