Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir waren nie Freunde

Wir waren nie Freunde

Titel: Wir waren nie Freunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Casta
Vom Netzwerk:
stehen. Schaue mich um, dann gehe ich auf Zehenspitzen und gucke hinein. Er sitzt am Schreibtisch. Den Kopf auf die Hand gestützt. Was macht er? Ich kann es nicht sehen. Vielleicht liest er etwas. Ich nehme es an. Ich zucke zusammen, als ich Schritte hinter mir höre. Es sind leichte, schnelle Füße, die leise auf dem Asphalt klappern. Vielleicht liegt es am Wind, dass ich sie vorher nicht gehört habe. Ich drehe mich um. Erkenne Maj. Sie hat einen Campingbeutel in der Hand. War sie bei Nachbarn? Ich sehe, dass sie mich auch erkennt. Sie ist überrascht.
    »Na so was, hallo Kim! Das ist lange her, dass ich dich gesehen habe«, sagt sie.
    »Hallo Maj«, sage ich. »Ich war den Sommer über in den USA. In Michigan.«
    »Wie schön. Ist Philip nicht zu Hause?«
    »Doch«, antworte ich. »Aber ich wollte nur ein bisschen laufen.«
    Sie sieht mich verwunden an. Ich habe einen ganzen Sack voller Ausreden, unter denen ich aussuchen kann. Ich nehme eine, die der Wahrheit entspricht.
    »Elvis ist verschwunden«, sage ich seufzend.
    Als ich ihren fragenden Blick sehe, füge ich hinzu: »Das ist ein Igel, der seit dem Frühling in unserem Garten gewohnt hat.«
    »Ach so«, sagt Maj. »Na, dann hoffe ich, dass du ihn findest.«
    Als ich mich dem Seven Eleven nähere, werde ich unsicher. Ich weiß nicht so recht, was ich machen soll. Und wenn ich nun jemanden treffe, den ich im Augenblick nicht treffen möchte? Ich bleibe ein Stück vor dem Laden stehen.
    Ein Schwarm kleiner Rotznasen wimmelt um den Laden herum. Es ist die übliche Bande. Sie warten darauf, dass jemand mit Geld auftaucht und einen Stapel Hockeybilder oder die neue Ausgabe von Micky Maus kauft. Ich zögere. Dann fasse ich einen Beschluss. Dränge mich durch den Jungsschwarm, schüttle nur den Kopf über ihre Bettelei und trete ein. Die Türglocke klingelt, und Ali schaut von der neuesten Ausgabe irgendeiner arabischen Zeitung auf, deren Seiten dünner als Herbstlaub sind. Ich nicke ihm zu.
    »Hallo Kim«, sagt er.
    Ich wandere die Regale entlang, biege rechts an dem Kühlregal mit Milch ab, gehe weiter zu dem Süßigkeitenregal. Dort bleibe ich eine ganze Weile stehen. Schließlich merke ich, dass Ali sich langsam wundert, was ich da treibe, also gehe ich zur Kasse und nehme mir dort ein rotes Feuerzeug.
    »Sonst nichts?«, fragt Ali verwundert, als ich es auf das Band lege.
    »Nein«, sage ich. »Heute nicht.«
    Tove Als wir aufbrechen, bin ich so besoffen, dass ich fürchte, ich bin verrückt geworden. Der ganze Berg be- wegt sich. Der Wald schlägt über mir zusammen. Bäume, Felsen, Moorgebiete, alles schwankt, ist ungenau wie in einem Kaleidoskop oder eine große Übelkeit, die einen umschleicht, innen wie außen. So ein Gefühl ist das. Ich bin wie so ein orangefarbener Geleefrosch, der versuchen soll, seine weichen Beine zu benutzen.
    Alles geht schnell, denn wir haben es so schrecklich eilig. Wir raffen die Sachen zusammen. Knüllen alles zusammen, damit es Platz findet. Die ganze Zeit schreien Manny und Pia, dass wir uns beeilen sollen. Dann eilen wir den Berg hinunter.
    Ich falle fast zu Boden und rase geradezu hinunter, begreife gar nicht, dass ich das überlebe. Dass ich nicht dabei umgekommen bin. Der Boden öffnet sich einfach vor mir, ich trete offenbar direkt ins Leere. Dann breche ich ein, falle wie in einem Albtraum in ein dunkles Loch, das sich unter mir auftut, und ich denke, dass ich sicher weiterfalle, bis ich aufschreie und aus meinem Traum aufwache, aber plötzlich wird der Fall gestoppt, ich schlage mit dem Rücken gegen etwas, die Schulter stößt gegen etwas anderes, und ich bleibe liegen. Es ist still. Ich nehme an, dass ich lebe. Vielleicht fällt man weicher, wenn man so besoffen ist wie ich.
    Mein Kopf liegt in irgendwelchen Tannennadeln, und ich höre die Stimmen der anderen in der Dunkelheit um mich schweben. Sie geben ein hohles Echo, als wären wir weit draußen im Weltall. Als wäre all das Schwarz nicht eine Nacht, sondern das endlose, leere Weltall, ohne die Möglichkeit, einen Halt zu finden, ohne blinkende Sterne, ohne Hoffnung. Etwas, von dem ich annehme, dass es Pias Stimme ist, ist weiter oben zu hören. Sie ruft irgendetwas.
    Die anderen ermahnen sie leise zu sein. Ich höre Philip und Manny. Sie sind weit unten. Manny lacht laut. Zuerst begreife ich es nicht, ich begreife gar nichts. Dann höre ich, wie Philip Pia etwas zuruft. Seine Stimme ist hart und etwas unsicher, sie vibriert am Ende. Als hätte er nicht genug

Weitere Kostenlose Bücher