Wir waren nie Freunde
Sie spürt meinen Blick, obwohl auch sie sich weggedreht hat. Plötzlich steht sie auf. Kommt zu mir und schreit:
»Er war ja so verdammt blöd! Hat uns die ganze Zeit provoziert! Jemand musste ihm doch mal zeigen, dass man sich so nicht benehmen kann!«
» Wir müssen zusammenhalten«, sagt Philip.
Als mir die Wahrheit so langsam klar wird, spüre ich, wie der Boden unter meinen Füßen schwankt. Es ist dieses Schwindelgefühl von letzter Nacht, als ich den Berg hinuntergestürzt bin, es kommt zurück. Der Wald schwankt, mein Magen zieht sich zusammen, und ich merke, dass ich mich übergeben muss. Ich drehe mich zur Seite, beuge mich vor und rülpse laut. Nur ein bisschen zäher Schleim hängt an den Lippen. Zunächst ist es, als würde ich den wahren Inhalt der Berichte nicht verstehen. Es ist wie letzte Nacht, als alles, was geschah, so unrealistisch war, wie ein Film, den man sich ansah, und der bald zu Ende sein würde.
Aber jetzt ist der Film zu Ende. Ich bin jetzt nüchtern, oder jedenfalls fast. Ich kann denken. Ich kann Dinge verstehen, an die ich am liebsten gar nicht denken würde. Dann packt mich der Schreck. Ich beginne zu schwitzen, obwohl ich doch friere.
»Du bist tot«, denke ich. »Du hast die Nacht über allein auf einem Berg gelegen und bist verblutet.« Wir müssen jetzt zusammenhalten. Wir dürfen einander nicht im Stich lassen. Wenn wir das tun, wird es uns ganz übel ergehen. Dann wird das hier zu einer verdammt unangenehmen Geschichte.
»Wir müssen zusammenhalten«, sage ich.
»Oh Mann, das haben wir doch nicht gewollt. Er ist doch selbst schuld dran. Dafür kann doch niemand was. Es schien ja fast, als wollte er selbst, dass so etwas passiert.«
»Wir können später darüber reden«, sagt Philip und versucht etwas von seiner Sicherheit zurückzugewinnen. »Jetzt müssen wir erst einmal weiter.«
Wir brechen auf. Wir gehen ziemlich schnell. Wir wollen weg von hier. Ich will nach Hause. Ich glaube, wir hoffen alle, dass der Albtraum vorbei sein wird, wenn wir nur von hier fortkommen, wieder in die Stadt. Als wäre das eine Erinnerung, die man im Wald zurücklassen könnte. Als wir unsere Fahrräder unter den Kiefern finden, ist es mir gelungen, die Situation einmal zu durchdenken. Die erste Panik ist vorbei. Sie wird ersetzt von einem anderen, noch stärkeren Gefühl:
Und wenn du jetzt nicht tot bist. Wenn du lebst, aber verletzt bist? Dann brauchst du so schnell wie möglich Hilfe.
Ich kenne die Symptome, die bereits unter dem Haaransatz herangekrochen kommen. Die Ameisen haben schon den ganzen Morgen im Hintergrund gelauert, anscheinend darauf gewartet, dass ich klar genug im Kopf bin, um dann zum Stoß anzusetzen. Jetzt werfen sie mir ihre Stacheldrahtkrone auf meinen schmerzenden Kopf und ich kann feststellen, dass es sich nicht nur um die übliche Migräne handelt, es ist nicht nur eine Bande Ameisen, die unter der Haut herankriecht. Es ist die ganze verfluchte Welt, die in meinen Kopf einbricht.
Ich glaube, erst als wir auf den Rädern zurückfahren, wird uns alles wirklich klar. Es ist ein ziemlich sonniger Tag. Wasser läuft in kleinen Rinnsalen über den Weg, und an einigen Stellen - drücken sich die Reifen in den weichen Kies hinein. Es fällt mir schwer, ohne Brille zu fahren, ich muss mich darauf konzentrieren, nicht aus der Spur zu kommen.
Philip wie immer als Erster. Er lässt den Kopf hängen. Sein Helm ist zur Seite gerutscht. Für mich sieht er aus wie ein erschöpfter Soldat, der vom Krieg nach Hause radelt.
Ein Specht klopft hohl. Das Geräusch hat mir immer gefallen. Jetzt klingt es wie ein Maschinengewehr. Als wir eine Kurve fahren und auf eine ebene Strecke zwischen zwei Mooren kommen, hören wir einen ganzen Schwarm Kraniche trompeten, sie fliegen tief über die Bäume, wie feindliche Flugzeuge.
Normalerweise hätte Philip die Hand gehoben und »Halt« gerufen, und wir hätten eine Weile dagestanden und sie uns angesehen.
Solche Dinge, Dinge aus dem normalen Leben, drängen sich mir auf und vermischen sich mit meinen Gedanken. Ich glaube, dadurch wird es so unerträglich. Ich muss langsam einsehen, dass dieser ziemlich sonnige Alltag im April kein ganz normaler Tag ist, sondern das Ende all solcher Tage. Philip wird vielleicht nie wieder eine Fahrradkarawane anführen, die im Morgengrauen aus der Stadt herausfährt.
Ab wann ist es schiefgelaufen? Wann ist es umgekippt? Ich weiß es nicht. Ich versuche darüber nachzudenken, kann aber keine Antwort
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