Wir waren unsterblich (German Edition)
Gliedmaßen, aufgerissenen Augen und erstarrtem Schaum auf den Lippen. Tot. Und der gefährlichste Spinner der ganzen Gegend hatte uns deshalb in der Hand.
Ein Schatten schob sich vor die Sonne. „Die Knarre war gar nicht echt.“ Es war Markus. Er hockte sich neben uns in den Graben. „Nur eine Gaspistole. Das habe ich sofort gesehen.“ Der Riss über seiner Augenbraue glänzte feucht. Blut besprenkelte sein T-Shirt wie ein feines Blütenmuster. Er wischte sich mit der Faust über die Wunde, dann über das Gesicht und sah danach aus wie ein Indianer mit Kriegsbemalung. Immer war es Markus, der blutete, aber das schien ihm nichts auszumachen.
„Wir werden ihn nie mehr los“, flüsterte Töffel. „Nie mehr.“ Markus und ich schwiegen. Hilko und Leo näherten sich. Sie redeten miteinander.
Töffel sah auf. Sein Gesicht war jetzt gerötet, die Augen glänzten wie im Fieber. „Charlie wird immer an uns kleben. Wie ... wie ein Blutegel. Egal, was wir machen. Er wird da sein und von uns seinen Anteil verlangen.“
„Es war ein Unfall“, sagte ich. „Wir haben den Hausmeister gar nicht umgebracht. Wir wissen noch nicht einmal, warum der Kerl überhaupt tot ist.“
Töffels Mundwinkel zuckten. „Das glaubt uns doch kein Mensch.“
„Wir können nur abwarten“, hörte ich Hilkos Stimme. Er blickte auf uns herab und versuchte ein Lächeln für Töffel. Leo stand mit leerem Gesicht neben ihm und starrte auf die Wohnhäuser jenseits der Straße. Sein Verstand schien eine Verschnaufpause einzulegen.
„Gehen wir nach Hause. Wir sind jetzt alle viel zu fertig.“ Hilko tippte sich gegen die Stirn. „Wir müssen einen klaren Kopf bekommen.“
Ich half Töffel auf die Beine. Töffel schwankte ein wenig und hielt sich an mir fest.
„Kein Wort zu irgendeinem Menschen“, schärfte uns Hilko ein.
Ein paar Mal hatte ich bisher erfolglos versucht, eine ganze Nacht aufzubleiben. Aus Neugierde, was passiert, und um den Sonnenaufgang zu erleben. Fast wäre es mir diesmal gelungen. Ich wälzte mich im Bett hin und her, stand immer wieder auf und starrte in die Dunkelheit. In immer mehr Fenstern erloschen die Lichter. Ich fühlte mich einsam. Ich dachte dabei an den toten Hausmeister im Keller des Bauernhofs. Wie er dalag, mit verzerrtem Gesicht, getrockneter Spucke rings um den aufgerissenen Mund. Der Schlaf schlich sich irgendwann an wie eine Krankheit.
Als ich am nächsten Morgen die Küche betrat, erwartete ich einen Moment lang, dass mich meine Eltern auf die Geschehnisse des vergangenen Tages ansprachen, vielleicht schon längst über alles Bescheid wussten. Aber sie hatten nicht die geringste Ahnung. Auch vor der Schule stand kein Polizeiwagen und ich redete mir ein, dass alles schon irgendwie gut gehen würde. Es war nur eine Frage der Zeit. Aber als ich auf den großen Hof zwischen den Pavillons einbog – in jedem war Platz für zwei Schulklassen – wurde ich dann doch erwartet.
„Sieh an!“ Charlie streckte mir die Handfläche entgegen.
Leo stand einen Meter neben ihm. Seine rechte Wange glühte. Es sah aus, als hätte er eine Backpfeife erhalten. Seine Jacke war so eng, dass es ihm unmöglich war, die Arme herunterhängen zu lassen. Sie standen seitlich vom Körper ab wie bei einer ausgestopften Puppe. Die Jacke gehörte vermutlich einem seiner jüngeren Geschwister.
„Alles!“ Charlie wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum. Sein Zeigefinger stupste gegen mein Kinn. „Ich brauche Spritgeld. Kapiert! Dieser Wichser ... .“ Er deutete mit dem Kopf auf Leo. „ ... hat keinen Pfennig dabei. Das muss anders werden. Klar?“
Leo nickte eingeschüchtert. Ich sah mich um. In hundert Meter Entfernung war das Lehrerzimmer in einem der Pavillons untergebracht. Vor dem Eingang alberten ein paar Fünftklässler herum. Fisch, der Erdkundelehrer, trat aus der Tür. Unter seinem linken Arm klemmte ein Stapel Hefte. Er blickte nicht zu uns herüber. Die Jungen und Mädchen folgten ihm kichernd. Michaela aus unserer Klasse kam vorbei. Ich war ein paar Monate in sie verliebt gewesen, hatte mich aber nie getraut, ihr das zu zeigen. Sie musterte Charlie, Leo und mich, runzelte die Stirn und schien etwas sagen zu wollen.
„Is` was, Kleine?“, grinste Charlie und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Michaela ging weiter, sah sich aber noch ein paar Mal nach uns um.
„Wieviel hast du?“ Charlie stupste mich wieder unters Kinn. Ich kramte eine Münze hervor.
„Zwei Mark?“ Charlie ließ das
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