Wir waren unsterblich (German Edition)
Geldstück verächtlich in seiner Hosentasche verschwinden. Er machte einen Schritt auf mich zu. Wir berührten uns fast. „Ab morgen wird das anders“, knurrte er. Einer seiner abgebrochenen Schneidezähne war ganz dunkelgrau. „Ab morgen will ich jeden Tag mindestens zehn Mark von euch. Das ist für den Anfang nicht viel, wenn ihr zusammenlegt. Ich habe aber keine Zeit, um mir die Knete abzuholen. Ihr bringt sie mir vorbei. Immer pünktlich um Vier.“ Er wandte sich ab und versetzte mir im Weggehen noch einen Stoß mit dem Ellbogen in die Nieren. Ich stöhnte laut auf.
„Sag das auch den anderen Wichsern.“
„365 mal 10.“ Hilkos Stimme klang ganz ruhig. „Das sind 3650 im Jahr. Also für jeden von uns zwei Mark am Tag.“
Leo, Markus, Töffel und ich trafen uns mit ihm während der großen Pause vor den Toiletten. Töffel wiegte seinen Oberkörper hin und her. Er schien keine Sekunde lang still halten zu können. „Zwei Mark pro Tag ist doch vielleicht zu schaffen“, sagte er und biss sich nervös in die Unterlippe.
„Für mich nicht“, patzte Leo wütend zurück. Leo hatte nie Geld, das wussten wir. Außerdem war er öffentlich gedemütigt worden. Zwei Jungen aus unserer Klasse – ziemlich miese Streber – hatten gesehen, wie Charlie ihm die Backpfeife verpasste.
„Dann müssen wir eben aushelfen“, schlug ich vor. „Vielleicht sogar was verkaufen. Bald ist doch wieder Flohmarkt ... .“
„Und wenn das erst der Anfang ist“, unterbrach mich Leo. „Vielleicht will er bald zwanzig Mark. Oder mal einen Hunderter zwischendurch. Was dann?“
„Genau!“, stimmte ihm Markus zu. „Unsere Karren können wir jedenfalls abschreiben.“ Er stöhnte und zog ein mürrisches Gesicht. „Und wenn wir einfach zur Polizei gehen? Wir sagen denen, wie es wirklich war.“
„Wie war es denn wirklich?“ Hilko schüttelte den Kopf. „Wir wissen noch nicht einmal, warum der Kerl tot ist. Die Polizei würde uns niemals glauben.“
„Da ist noch etwas ...“, begann Töffel und schwieg, als sich die Pausenaufsicht näherte. Unser Deutschlehrer knabberte an einem Apfel, musterte uns einen Moment lang mit hochgezogenen Augenbrauen und ging dann weiter. Aus mir unerfindlichen Gründen war unser Ruf innerhalb der Lehrerschaft nicht gerade der Beste. Dabei lag mein letzter Tadel zwei Monate zurück. Ich erhielt ihn wegen ungebührlichen Applaudierens nach dem Mathematikunterricht . Unser Mathelehrer war ein unerträglicher Langweiler.
„Und?“, wandte sich Hilko an Töffel.
„Heute morgen ... beim Frühstück.“ Töffel schluckte. „Meine Tante will heute mal nach ihrem Eugen sehen, sagte sie. Sie hat einen Schlüssel von seiner Wohnung.“
Markus winkte ab. „Was soll da schon passieren?“
„Sekunde, Jungs.“ Hilko beugte sich nach vorn. „Merkt ihr es nicht: Es kommt Bewegung in die Sache. Als Nächstes wird sie ihn suchen und später zur Polizei gehen.“ Er machte eine Pause und las die Wirkung seiner Worte an unseren entsetzten Gesichtern ab. „Das bedeutet: Wir sollten überprüfen, ob Charlie seinen Teil der Vereinbarung überhaupt eingehalten hat.“
Neben der Scheune verwilderte ein Obstgarten. Schlingpflanzen eroberten die Johannisbeersträucher und erwürgten sie jeden Tag ein wenig mehr. Efeu rankte an den Bäumen empor. Als wir den Bauernhof vor ungefähr einem Jahr das allererste Mal betraten, entdeckten wir, dass jemand versucht hatte, den größten der Bäume, einen knorrigen Apfelbaum, zu fällen. Etwas musste ihn aber von der Vollendung seiner Arbeit abgehalten haben, denn die Axt steckte tief und rostig im verwundeten Stamm. Markus und ich hatten sie mit vereinten Kräften herausgezogen. Anschließend hatte Markus damit ein paar herumliegende Dachziegel zerschmettert.
Die Äste des Apfelbaums schwankten sachte im Wind, die Blätter wisperten. Manchmal fiel mit einem Plop! ein Apfel ins Gras. Wir starrten schweigend zu dem Gebäude hinüber. Töffel war nicht am vereinbarten Treffpunkt erschienen. Wir hatten eine halbe Stunde gewartet und waren dann zum Bauernhof gegangen.
Leo hob einen der blassen Äpfel vom Boden auf und drehte ihn prüfend in seiner Hand. Er biss hinein und verzog das Gesicht. Die Äpfel waren noch nicht reif. Leo knabberte trotzdem weiter an dem Fallobst.
„Lass doch den Mist.“ Hilko kramte etwas aus seiner Jacke hervor: eine kleine eckige Flasche aus dunkelgrünem Glas. Auf dem Etikett erkannte ich einen Hirsch. Hilko schraubte den Deckel ab,
Weitere Kostenlose Bücher