Wir waren unsterblich (German Edition)
zu wissen. Aber in Wirklichkeit hatten sich die beiden in der Dunkelheit aus den Augen verloren. „Und dann!“ Er riss die Augen auf und in seinen Pupillen spiegelte sich das Licht der Laterne. „Dann habe ich ihn gesehen! Und fotografiert!“
Ich schluckte. Im Fliederbusch neben der Haustür raschelte etwas und huschte davon. Ein paar Sekunden lang sahen wir uns nur an. „Du hast den Lichtlosen fotografiert?“ Ich griff nach Markus und zog ihn näher zu mir. „Ist das wirklich wahr?“
Er tätschelte die Kamera und nickte. „Er ist hier drin. Ich will das Bild noch heute Nacht entwickeln.“
„Ich bin dabei“, verkündete Hilko.
Ich trat zurück in den Hausflur und lauschte. Kein Laut. Meine Eltern schliefen.
„Ich auch.“
Markus´ älterer Bruder hatte sich im Keller des Bungalows eine winzige Dunkelkammer eingerichtet. Der Raum, einst wohl als Besenkammer vorgesehen, bot nur Platz für zwei Personen. Ich blieb freiwillig draußen. Sie schlossen die Tür und ließen mich in dem schwach beleuchteten Kellerraum zurück. Ich lag auf einem abgewetzten Sofa und schloss die Augen. Gedämpft drangen die Geräusche aus der Dunkelkammer. Das Glucksen von Flüssigkeit, das Klappern von Metall und ein paar gemurmelte Worte von meinen Freunden. Ansonsten war es still im Haus. Die ganze Nacht schien merkwürdig still zu sein. Ich verspürte nicht die geringste Müdigkeit. An Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Was hatte Markus auf dem Bauernhof aufgenommen? Vielleicht war es nur ein Penner, der dort unterkriechen wollte oder einer von den älteren Jugendlichen, die dort manchmal ihre wilden Partys feierten. Doch plötzlich hatte ich die Idee, dass es Grundmann sein würde. Er schlich durch die Dunkelheit. Auf der Suche nach denen, die an seinem Tod Schuld waren. Ich sprang auf und versuchte, den Gedanken zu vertreiben. Ich presste meine Stirn gegen das Holz der Tür. „Dauert das noch lange?“ Sie gaben keine Antwort. Im Obergeschoss ächzte eine Diele. Ich schlich zur Kellertreppe. Eine Toilettenspülung wurde betätigt und Wasser floss in einem eiligen Schwall durch ein Rohr zu meiner Linken. Dann war wieder alles ruhig. Hilko seufzte laut in der Dunkelkammer. Ich spürte, wie mir eiskalt wurde. Markus´ Stimme klang hektisch, sie schnappte fast über, während Hilko mühsam versuchte, die Kontrolle über sich zu behalten. Aber jedes seiner Worte zitterte. Ich erlebte zum ersten Mal, dass sich Hilko wirklich fürchtete. Die Tür öffnete sich. Hilko stand auf der Schwelle. Düsteres, rotes Licht kroch aus der Dunkelkammer an ihm vorbei und ließ ihn wie einen Schattenriss aussehen. Markus war hinter ihm nicht mehr als ein undeutlicher Schemen. Hilko streckte den Arm aus. Daumen und Zeigefinger hielten das Foto. Ich stand wie angewurzelt. Meine Muskeln versagten mir den Dienst. Mein rechtes Augenlid begann unkontrolliert zu zucken. Nein!, sagte eine innere Stimme. Sieh es dir nicht an! Ich wünschte mir, einfach nach Hause gehen zu können. Unter die Bettdecke zu kriechen und alles zu vergessen. Aber so funktionierte das nicht. Wir mussten die Sache durchstehen.
Ich sah mir das Foto an. Schwarz! Fast das gesamte Foto wurde von undurchdringlicher Schwärze beherrscht. Was hatte ich erwartet? Markus konnte unmöglich ein Blitzlicht benutzen. Der Fremde – mein Verstand weigerte sich noch ihn als den Lichtlosen zu bezeichnen – hätte es sofort bemerkt.
Doch da war nicht nur Schwärze. Im Zentrum des Fotos ...
„Gibt es hier nicht mehr Licht?“, fragte ich. Markus schob Hilko zur Seite, betätigte einen Wandschalter und über mir erwachte summend eine Neonröhre. Sie gab ein widerwilliges Klicken von sich und ihr Glaskörper füllte sich zuerst mit einem kranken Braun. Dann überzog die Neonröhre den Keller mit hektischem Flackern. Von irgendwoher wehte ein Luftzug, und die Kälte auf meiner Haut machte mir bewusst, dass ich geschwitzt hatte.
Im Zentrum des Fotos gab es einen blassen Fleck. Er schien inmitten der Dunkelheit zu schweben. Die Konturen waren seltsam verschwommen. Wie Nebel, der im Wind zerfaserte.
„Gib ihm die Lupe“, flüsterte Hilko. Markus musste sie schon die ganze Zeit in der Hand gehalten haben.
Unter dem Vergrößerungsglas schien der Fleck zu explodieren. Es war ein Gesicht. Aufgedunsen und unmenschlich. Die kreisrunden Augen glichen Löchern, nein, Wunden, die jemand ins wächserne Fleisch gestanzt hatte. Ohne Pupillen. Ohne Augäpfel.
Die Lupe in meiner zitternden Hand
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