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Wir waren unsterblich (German Edition)

Wir waren unsterblich (German Edition)

Titel: Wir waren unsterblich (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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tanzte über das Foto und zeigte mir die Fratze aus immer neuen Perspektiven. Der Mund war so breit und tiefliegend, dass er den Schädel in zwei Hälften zu spalten schien. Dieser Schädel hing nicht schwerelos im Raum. Unter ihm zeichneten sich die Umrisse eines Körpers ab. Seltsam verzerrt und unklar. Nichts stimmte. Was immer Markus dort fotografiert hatte: Es war kein menschliches Wesen.
    Ich vernahm ein helles Schluchzen. Wie von einem Welpen. Ich brauchte einen Moment um festzustellen, dass ich es erzeugte. Es entstand in meiner Kehle. Ich öffnete meinen Mund und es verwandelte sich in ein Schluchzen. Das Foto entglitt meinen Fingern. „Was ... ist ... das?“

    Als ich mich auf den Heimweg machte, starb die Nacht. Der Himmel wurde von einem dunklen Blau erobert und wie auf ein geheimes Zeichen begannen die Vögel zu zwitschern. Ich huschte über den Bordstein und hielt mich von den Schattenlöchern zwischen den Büschen und Mauern fern. Mein Herz schlug panisch und ich war froh, die ersten Autos auf den Straßen zu sehen. Darin saßen Männer, die zur Frühschicht fuhren. Die letzte Stunde vor dem Erwachen meiner Eltern verbrachte ich auf dem Bett. Ich wandte dem Fenster den Rücken zu, wollte auf keinen Fall hinaussehen, denn vielleicht verbarg sich dort etwas und wartete nur darauf, die bleiche Fratze gegen die Scheibe zu pressen.
    Ich manövrierte mich durch das zehnminütige Frühstück mit meinen Eltern und ging zur Bushaltestelle. Dort standen bereits Hilko, Markus und ein verwirrter Leo, dessen Gesicht ein einziges Fragezeichen bildete. Sie hatten ihm das Foto sofort gezeigt. Ich sah es mir noch einmal an. Jetzt, wo ich wusste, was sich in dem Schemen verbarg, erkannte ich die Fratze auch ohne Vergrößerungsglas. Töffel kam an diesem Morgen nicht. Ich begann mir sofort Sorgen zu machen. Ich saß im Bus, sah die Stadt Unna an mir vorbeiruckeln und fand es absurd, noch am Alltag festzuhalten. Leo saß neben mir, umklammerte seine Kunstledertasche und fragte leise: „Was hältst du davon? Ihr wollt mich doch nicht nur verarschen?“
    Wir kamen am Kreishaus vorbei. Ich erinnerte mich daran, wie wir in dem weißen Klotz Paternoster gefahren waren. Als ich mich zum ersten Mal in den Aufzug traute, glaubte ich, wir würden beim Herunterfahren auf den Kopf gestellt. Markus und Hilko hatten sich halb totgelacht.
    Töffel fehlte schon wieder und diesmal tauchte er auch nicht zur dritten Stunde auf. Wir mussten so früh wie möglich zu ihm. Ich hatte keine Angst mehr vor seiner Tante. Meine Furcht konzentrierte sich auf das Foto in Markus´ Jackentasche.

    Wir wollten uns um drei auf dem Spielplatz im Schatten des Hochhauses treffen. Ich verspätete mich ein wenig. Meine Mutter hatte mir noch eine Standpauke wegen meiner schlechten Noten gehalten. Ihre Vorwürfe erreichten mich nicht. Sie ergaben keinen Sinn, denn schließlich, so sagte ich mir, konnte ich schon bald tot sein.
    Hilko, Markus und Leo waren schon da. Sie hockten auf einer Bank und steckten ihre Köpfe in ein Buch. Zwei Bänke weiter döste Bossel, der eilig alternde Säufer. Heute würde er wohl keine erfundenen Geschichten erzählen. Im platt getretenen Gras lag eine Batterie leerer Bierflaschen. Sein Schäferhund hob den Kopf, als er mich erblickte und fletschte die Zähne.
    Meine Freunde rückten für mich zusammen. Markus tippte auf die aufgeschlagenen Buchseiten. Dort waren mehrere uralte Schwarzweißfotos abgebildet. Sie zeigten Männer und Frauen in strenger Kleidung und mit noch strengeren Mienen. Sie nahmen von den nebelhaften Gesichter, die hinter ihnen in der Luft schwebten, keinerlei Notiz. Ich kannte das Buch. Es trug den Titel Geister und Phantome und gehörte mir. Ich hatte es Markus vor einiger Zeit geliehen. In diesem Kapitel ging es um Geisterporträts. Die Fotografen mussten zu ihrer Überraschung nach dem Entwickeln der Negative entdecken, dass sich merkwürdige Erscheinungen auf die Fotos geschlichen hatten. Man deutete sie zumeist als verstorbene Verwandte oder Freunde der Porträtierten.
    „Also gab es so was schon immer“, stellte Markus fest.
    „Aber der auf dem Foto ... den hast du doch sogar gesehen ... hast du gesagt.“ Hilko sprach ungewöhnlich langsam, so als hätte er Probleme die richtigen Wörter zu finden. Er saß links von mir und ich roch Alkohol in seinem Atem. Er hatte schon wieder getrunken.
    „Er war schwarz“, antwortete Markus. „Ganz schwarz.“
    „Steht in dem Buch auch, wie man diese

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