Wir waren unsterblich (German Edition)
nicht fest gewesen sein. Hilko hatte nur kurz gezuckt. Töffel sah auf seine geballte Faust. „Das hab ... es tut mir Leid.“ Er weinte.
„Ist schon gut“, brummte Hilko und nickte Markus zu. „Zeig ihm das Foto.“
„Ihr habt ihn fotografiert?“ Töffel wusste sofort, worum es ging. Man spürte, wie er plötzlich mit sich rang. Er fürchtete sich vor dem Anblick. Aber er konnte jetzt keinen Rückzieher mehr vor uns machen. Es war wie in einem dieser Gruselfilme am Samstagabend. Die Musik, die Grimassen der Schauspieler, alles sagt einem, dass jetzt etwas Furchtbares geschieht, aber man kann nicht wegsehen. Markus hielt ihm das Foto hin. Lass es! Töffel, das ist hier kein Film, wollte ich rufen, aber es war schon zu spät. Töffel sah den Lichtlosen.
Ich war erstaunt. Töffel blieb ganz ruhig. Er kniff die Augen zusammen, hielt sich das Foto so dicht vor sein Gesicht, dass es fast die Nasenspitze berührte. Dann drehte er das Foto, um es aus allen Perspektiven betrachten zu können. „Es erinnert mich an den Mond. An den Mond im Nebel.“
„Ich habe es drüben im Flur aufgenommen.“ Markus deutete zur Wand, die an das Hauptgebäude grenzte. „Hier! Damit kannst du besser sehen.“ Er holte eine kleine, verschrammte Plastiklupe hervor. Töffel hielt sie über die Aufnahme. Jetzt reagierte er. Ich wusste, was für ein Gefühl es auslöste, die Einzelheiten der Fratze zu erkennen. Der riesige Mund und die viel zu kleinen Löcher der schwarzen Augen. Obwohl alles verschwommen und unscharf war, erinnerten sie an die bösen Knopfaugen gefräßiger Nagetiere. Doch Töffel erkannte etwas ganz anderes. Sein Gesicht nahm die Farbe von Kreide an, er sog den Atem in schnellen, hechelnden Zügen ein und ohne den Blick von der Aufnahme abwenden zu können, sagte er: „Ich kenne ihn.“
„Was?“, machte Markus.
„Es ist der Tod.“ Töffel taumelte rückwärts und prallte gegen einen Heuballen. Foto und Lupe wirbelten durch die Luft. Er ruderte wild mit den Armen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. „Glaubt mir!“, schrie er. „Es ist der Tod! Ich kenne ihn!“
„Du kennst den Tod?“, fragte ich. Töffel starrte wie hypnotisiert auf das Foto vor ihm am Boden.
„Steck es ein“, sagte Hilko zu Markus. Auf dem Feldweg näherte sich ein Traktor. Der dumpfe Dröhnen wurde zu einem hellen Tuckern, als der Fahrer auf Höhe des Bauernhofs einen Gang herunterschaltete. Der Traktor wurde langsamer und beschleunigte dann wieder. Leo lief zum Scheunentor, spähte hinaus und gab Entwarnung.
„Ich bekam zu meinem fünften Geburtstag ein Kasperltheater“, begann Töffel mit gesenkter Stimme.
„Ein Kasperltheater ?“ Markus kicherte nervös.
„Lass ihn ausreden“, schnappte ich. Töffel war plötzlich wieder fünf. Seine ängstlich geduckte Haltung, die ihn noch kleiner als sonst wirken ließ; der scheue Ausdruck im Gesicht mit den Rehaugen machten ihn zu einem kleinen Jungen. Und so klang auch seine Stimme, als er sprach: „Es war in einem großen Pappkarton verpackt. Alle Puppen waren darin: der Kasper, die Großmutter, der Wachtmeister, das Krokodil und der Teufel. Aber der Teufel war nicht schrecklich. Er grinste und sah noch nicht einmal richtig böse aus.“ Er machte eine Pause und schluckte. „Die letzte Puppe ... sie lag ganz unten ... war der Tod. Ein weißer Schädel. Adern durchzogen ihn wie ... Marmor. Die Augenhöhlen waren leer und schwarz. Und die Zähne ... die waren auch ganz schwarz. Er grinste mich an.“
„Was hast du mit der Puppe gemacht?“, fragte ich.
Töffel schüttelte sich. „Ich hab sie in einen Schuhkarton getan und in den Keller gebracht.“
„Ist sie noch immer da unten?“
Er kämpfte ohne Erfolg gegen seine wilde Panik an. „Nein!“, schrie er. „Sie ist jetzt hier! Ihr habt sie doch fotografiert!“
„Du meinst: Deine Kasperpuppe ist zum Leben erweckt, nennt sich der Lichtlose und schreibt Botschaften an Kellerwände.“ Leos ausdrucksloses Gesicht ließ nicht erkennen, ob er Töffel verspottete oder die Frage ernst gemeint war.
„Es ist keine Puppe. Es ist der Tod!“, kreischte Töffel. „Ganz bestimmt!“
„Und wie kommt der dann hierher. Ich meine: Fliegt er durch die Luft oder wie?“ Ich sah Leo strafend an. Er wollte Töffel wohl doch verarschen. Als kleines Kind hatte ich selbst schreckliche Angst vor vielen Dingen. Vor dem hintersten Keller in unserem Haus; dort, wo man sich bücken musste, um nicht gegen die niedrige Decke zu
Weitere Kostenlose Bücher