Wir wollen Freiheit
Lagern |141| kommen: Liberale, Islamisten und Sozialisten. So haben wir zusammengefunden«, beschreibt der Aktivist Aid Beshir. Er verstehe sich als Liberaler, ihm sei aber die Religion sehr wichtig und der Islam bestimme sein Denken und seine Werte. »Ich will nur nicht die beiden Bereiche mischen, denn das bekommt weder der Politik noch dem Glauben gut«, sagt er. »Die Liberalen haben ihre Meinung und wir haben unsere. Zugleich haben wir aber Werte und politische Ziele, die wir teilen«, erklärt auch die 1 8-jährige
Muslimschwester
Gihad Khaled.
Es kommt zu einer Verschiebung: Wenn es bisher zumeist fromme Muslime waren, an denen sich die Mehrheit der Jugendlichen orientierte, geben jetzt coole Aktivisten den Ton an: Der Prediger vom Typ langbärtiger Mohammed Hassan wird abgelöst durch den mutigen Wael Ghoneim. Der »Mu’min – Gläubige«, der alles für Gott tut, wird abgelöst durch den »Naschit – Aktivisten«, der sich für sein Land opfert. Er mag auch gläubig sein, sehr sogar, doch er kann noch mehr.
Sichtbarstes Zeichen für diese Verschiebung ist eine Veränderung der Mode: Es entsteht ein Tahrir-Look. Immer mehr Mädchen tragen enge Jeans, Schlabber-Shirt und Turnschuhe – dazu wahlweise Kopftuch oder auch nicht. Bisher war dies der Look der Mädchen der internationalen Schulen und privaten Universitäten. Nach dem 11. Februar schwappt der Trend in andere Schichten und auch in den Armenvierteln lassen viele ihre langen engen Röcke und Pumps im Schrank: »Schon aus praktischen Gründen: Man weiß in diesen Tagen nicht, was einen erwartet, und da ist es auf jeden Fall besser, wenn man wegrennen kann«, erklärt eine Kosmetikerin aus Dar al Salam. Sie bewundere die Mädchen sehr, die auf dem Tahrir mitgemacht hätten und sie wäre auch gerne gegangen: »Aber meine Mutter ließ mich nicht. Immerhin habe ich jetzt die Jeans durchgesetzt!«, |142| sagt sie und grinst, stolz auf ihre ganz persönliche kleine Revolution.
Der zweite wichtige Grund dafür, dass die ägyptische Revolution nicht von den islamischen Gruppen geprägt wird, ist, dass diese gerade in der Krise stecken. Manche der Führer verschlafen regelrecht die Anfänge der Revolution. Sie rufen ihre Anhänger nicht auf, am 25. Januar auf die Straße zu gehen. Zum Teil, weil sie schlichtweg nicht an Demonstrationen als politisches Mittel glauben oder nicht mit den verlotterten liberalen Facebooklern zusammen marschieren wollen. Wieder andere stehen so im Dienste des Regimes, dass sie Proteste gegen den Präsidenten als Verstoß gegen den Islam verurteilen. Doch egal, was die Führer sagen: Ihre Jugend geht trotzdem, und als die Führer begreifen, was in Ägypten vor sich geht, reihen sie sich ein. Manche früher, andere brauchten etwas länger.
Es ist die Diskussion um die Beteiligung an den Demonstrationen, die Auflehnung der Jugendlichen gegen ihre Führer in dieser Frage plus die Tahrir-Erfahrung und schließlich die neue Freiheit nach dem Sturz des Regimes, welche die islamischen Vereinigungen und Strömungen in Ägypten durcheinanderwirbeln. Im Frühjahr 2011 erfolgt ganz nebenbei eine Revolution der Religion.
Um zu verstehen, wie es dazu gekommen ist, werde ich in diesem Kapitel zunächst auf die Entwicklung der islamischen Bewegungen eingehen: Wo kommen sie her und was wollen sie? Im nächsten Schritt komme ich auf die Ursachen zu sprechen, weshalb die verschiedenen Bewegungen in den letzten Jahren in die Krise geraten sind. Und schließlich geht es um ihre Entwicklung während und nach der Revolution.
In diesem Kapitel geht es um Ägypten, allerdings nicht nur. Ägypten war schon immer Trendsetter in Islamfragen. Hier entstand um 1900 die Idee einer islamischen Erneuerungsbewegung, hier wurde 1928 die
Muslimbruderschaft
gegründet |143| und von hier stammt auch der neue Chef der Al Kaida, Eiman al Sawahiri. Von Kairo breitete sich der Pop-Islam aus.
Nun gehen abermals Impulse von Ägypten aus. Womöglich entwickelt sich sogar eine neue Bewegung – wenn es gut läuft, wird es eine Erneuerungsbewegung, welche die Erfahrungen des Tahrir-Platzes in den Rest der islamischen Welt trägt. Der Arabische Frühling ist auch ein Islamischer Frühling.
Rückblick: Die Wurzeln des Islamismus
1928 gründet Hassan al Banna die »Ikhwan al Muslimun – die Muslimbruderschaft«. Ziel der bürgerlich-konservativen Organisation ist die Erneuerung der Gesellschaft von innen. So solle ein islamischer Staat aufgebaut werden.
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