Wir wollen Freiheit
Bevölkerung noch nicht reif sei, eine politische Entscheidung zu treffen und bei den Wahlen vermutlich die wählen würden, die sie schon immer wählten – also die Vertreter des alten Regimes oder die Islamisten, die mit ihren Dienstleistungen und Moscheen gerade in armen Gegenden stark sind. Mit der Forderung: »Die Verfassung zuerst« wollen sie verhindern, dass die so gewählte Regierung dann über das Grundgesetz Ägyptens entscheiden darf. Stattdessen soll ein Komitee der Elite die Grundfreiheiten definieren und erst dann soll gewählt werden.
»Das Problem der Liberalen und Linken ist, dass sie keine Ahnung haben, wie man in Ägypten Wahlkampf macht und wie die Politik hier funktioniert«, sagt Khaled al Safarani. Es gibt kaum jemand, der mehr Erfahrung auf diesem Gebiet hat als er: Seit 1987 versucht der unabhängige Islamist ins Parlament zu gelangen, ist aber wohl wegen Wahlfälschung immer wieder gescheitert. Mehr als ein Dutzend Mal hat er Wahlkampf gemacht: »Ein Drittel meines Tages verbringe ich damit, Leuten in meinem Wahlkreis Gefallen zu tun, ihnen mit einer Genehmigung, einer Arztrechnung oder beim Schlichten eines Streits zu helfen. Man muss bei den Leuten an die Tür klopfen. Immer wieder. In Salons und Talkshows herumsitzen, wie es die Liberalen machen, das bringt keine Wählerstimmen. Sie werden sehr schlecht abschneiden«, prophezeit er. Dabei seien die politischen Ideen der Liberalen gut und auch dicht an dem, was er will. »Ihr Problem ist aber auch, dass sie die falschen Leute haben: ElBaradei gilt nun mal für 90 Prozent der Ägypter als amerikanisches Ziehkind. Wenn die Menschen die Wahl haben zwischen
Muslimbrüdern
und ElBaradei, stimmen sie für die
Muslimbrüder,
auch wenn sie die schrecklich finden. Sie sind |137| das kleinere Übel«, sagt er. Er bringt das Problem des liberalen Lagers auf den Punkt. Die Zeit, die sie in Talkshows und mit ihrer Kampagne zur Verschiebung der Wahlen verbringen, fehlt ihnen beim Aufbau ihrer Parteien.
Khaled Al Safarani sagt, dass er eigentlich kein Problem mit ein bisschen Undergroundkultur habe: »Bei uns in Alexandria gibt es ja so ein paar Nischen, wo sich Jugendliche treffen und Musik machen und Graffitis sprayen und so. Solange die nicht versuchen, aus ihrer Nische herauszukommen und Einfluss auf andere Jugendliche zu gewinnen, können wir sie gewähren lassen«, sagt er. Auch gelte es zu überlegen, ob man den Verkauf von Alkohol auf Christen beschränke. Kein Wunder also, dass die Liberalen Leuten wie ihm nicht das Schreiben der Verfassung überlassen wollen.
Nicht nur die Islamisten punkten in den Armenvierteln, auch das alte Regime macht Boden gut. »Natürlich war Mubarak ein Verbrecher, aber immerhin gab es zu seiner Zeit Sicherheit«, erklärt Sania Arisch, eine Hausfrau aus dem Dar al Salam, weshalb in ihrem Viertel immer mehr anfingen, den alten Zeiten nachzutrauern. Es kommt Ende Juni zu mehreren Demonstrationen, organisiert vom »Volkskomitee zur Verteidigung Mubaraks« und anderen. »Wir wollen, dass ihm Gerechtigkeit widerfährt. Es war nicht alles schlecht in den letzten 30 Jahren, im Gegenteil«, sagt der Journalist Magdy Fouda, der die Organisation gegründet hat. Auch er ist dafür, die Wahlen im September zu verschieben. Allerdings aus anderem Grund: Das Land sei viel zu instabil, um zu wählen. Stattdessen solle die Regierung an einen durchsetzungsstarken Politiker übertragen werden. Einen wie Omar Suleiman. Den ehemaligen Geheimdienstchef hatte Mubarak ja noch während der Revolution zum Vize gemacht.
Unter den Jugendlichen der Revolution ist es mittlerweile verpönt, von »Revolution« zu sprechen. »Das war keine Revolution, es hat sich nichts wirklich verändert. Mubarak ist |138| weg. Na und?«, sagt Mariam Hany, die ich auch schon im Februar auf dem Tahrir interviewt habe und im Juli dort wiedertreffe. Sie ist entnervt. »Diese ganze Revolution und das Gerede darüber in den Regierungszeitungen und im Fernsehen ist bloße Propaganda. Indem sie von Revolution sprechen, wollen sie dem Volk einreden, dass sich etwas verändert hat. Hat es aber nicht«, sagt sie. Hauptkritikpunkt ist, dass der Prozess gegen Mubarak und seine Söhne noch nicht begonnen hat. Als Anfang Juli dann auch noch 14 Polizisten in Suez von einem Gericht freigesprochen werden – ihnen werden Gewalttaten gegen Demonstranten während der Revolution vorgeworfen – reicht es vielen.
Am 8. Juli ist der Tahrir-Platz voll. So viele sind
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