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Wir wollen Freiheit

Wir wollen Freiheit

Titel: Wir wollen Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Gerlach
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nicht mehr gekommen seit den Tagen des großen Gebets von Scheich Qaradawi direkt nach dem Sturz Mubaraks. Die Jugendlichen der Revolution haben zu einem Millionen-Marsch aufgerufen und in letzter Minute schließen sich auch
Muslimbrüder, Salafisten
und viele andere Gruppen dem Aufruf an. In den letzten Monaten waren sie dem Tahrir ferngeblieben. Die Jugend der Revolution lässt dafür die Forderung »Zuerst die Verfassung« fallen; »Wir wollen das Urteil gegen Mubarak und zwar jetzt!« wird der Ruf, der die Ägypter wieder vereint. Viele Demonstranten tragen statt Transparenten Henkerschlingen über den Platz und mit solchen Schlingen dekorieren auch viele Autofahrer ihre Windschutzscheiben. »Dem Recht der Märtyrer muss zuerst Rechnung getragen werden. Zudem können wir die neue Zeit nicht anfangen, ohne dass die Polizei, die Regierung, das ganze Land gesäubert wird von denen, die in der alten Zeit Verbrechen begangen haben«, sagt Khaled al Sani, der sich in einem der Zelte auf dem Tahrir-Platz eingerichtet hat.
    Es ist fast so wie während der Revolution, es gibt Musik und Theater. Nur, dass es heißer ist, viel heißer. Große weiße Segel bringen ein bisschen Schatten und der Blogger Sandmonkey |139| schickt immer wieder Twitter-Meldungen mit der Aufforderung, gekühlte Getränke und doch bitte, bitte mobile Klimaanlagen für die Zelte zu bringen. Der Humor ist auch wieder da und der Protest zeigt Erfolg: Stück für Stück gibt die Regierung nach. Es werden Polizisten entlassen, der Prozess gegen Mubarak soll nicht nur schnell beginnen, sondern auch im TV übertragen werden und die Wahlen werden auf November verschoben. Den Demonstranten ist das noch nicht genug, sie wollen bleiben, bis ihre Forderungen erfüllt sind, und zwar alle!
    Die Hartnäckigkeit lohnt sich: Am 3.   August beginnt der Prozess gegen Mubarak, seine Söhne und den verhassten Ex-Innenminister Hiabib Al Adli. Die Demonstranten vom Tahrir-Platz feiern dies als ihren Sieg. Allerdings ist es kein uneingeschränkter Erfolg. Der 8 3-jährige Mubarak wird auf einer Krankenliege vor den Richter gebracht und beteuert, dass er unschuldig sei. Wieder gewinnt er die Herzen zurück. Den alten Mann noch im Krankenbett vor den Richter zu schleifen, das gehöre sich einfach nicht. So die Meinung vieler. Auch die Spaltung des Landes in Islamisten und Liberale vertieft sich wieder. »Das Volk will das Islamische Recht!«, rufen die Demonstranten am letzten Freitag im Juli auf dem Tahrir-Platz und »Islamia, Islamia« statt »Salmia, salmia«. Noch ist nicht klar, in welche Richtung Ägypten steuert. Allerdings ist Optimismus erlaubt. Schließlich hat die Revolution nicht nur den Präsidenten aus dem Amt gejagt, sondern auch die Menschen geweckt. Sie wollen sich ihre Freiheit nicht wieder wegnehmen lassen.

|140| 5. Revolution und Religion
    V iele Leute überall auf der Welt konnten nicht aufhören, sich die Augen zu reiben, als sie die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz sahen: Wieso waren die so wenig islamistisch? Jahrzehntelang – seit dem Aufkommen der islamischen Studentenbewegung in den 70er Jahren – galt es als ausgemacht, dass die Massen in der Arabischen Welt radikal-islamisch sind. Wie oft haben wir Bilder gesehen von aufgebrachten Muslimen, die – den Koran in der Hand – dem Westen drohen? Das Bild vom Tahrir-Platz ist ein ganz anderes: Niemand schreit »Dschihad« und »der Islam ist die Lösung«. Sie rufen »Mubarak hau ab!« und »Wir wollen Freiheit!«. Trotzdem spielt die Religion eine Rolle: Die große Mehrheit der Frauen auf dem Tahrir-Platz trägt Kopftuch und viele Männer Gebetsfleck und Bart. Die gemeinsamen Gebete gehören für viele zu den besonderen Höhepunkten ihrer Revolutionserfahrung. Auch gehören manche der Demonstranten zu islamischen Vereinigungen wie der
Gamaat al Islamia
, und junge
Muslimbrüder
spielen eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung und Organisation der Demonstrationen.
    Wie kommt das? Was ist mit den ägyptischen Jugendlichen, mit der Gesellschaft passiert, dass urplötzlich nicht mehr die Islamisten den Ton angeben? Urplötzlich ist dies natürlich nicht geschehen. Es war eine langsame Entwicklung, die dazu geführt hat.
    Der wichtigste Grund ist, dass sich die Aktivisten – wie im zweiten Kapitel beschrieben – zu einem breiten Bündnis zusammengeschlossen haben. »Wir kamen zu dem Schluss, dass wir gemeinsame politische Ziele haben und dass wir Freunde sein können, obwohl wir aus verschiedenen

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