Wir wollen Freiheit
27. Mai ruft ein breites Bündnis zu einer zweiten ägyptischen Revolution auf. Die Liste der Forderungen ist lang. Ganz oben steht, dass Mubarak und Co endlich der Prozess gemacht werden soll. Auch fordern die Demonstranten die Freilassung der rund 400 Aktivisten, die seit der Revolution verhaftet wurden. Überhaupt sollen Zivilisten nicht mehr vors Militärgericht. Seit Mubaraks Rücktritt wurden |134| mehr Schnellurteile von Militärrichtern gefällt als je zuvor, daran hat auch die Verfassungsreform nichts geändert. Hinzu kommt die Forderung, die für September geplanten Wahlen zu verschieben und erst eine neue Verfassung zu erarbeiten. Immer mehr demonstrieren auch für die Ersetzung des Hohen Rates des Militärs durch ein ziviles Gremium. Der Knall scheint vorprogrammiert.
Doch am 27. Mai passiert wieder einmal ein Wunder. Die Armee überlässt den Tahrir-Platz ganz den Demonstranten. Sie werden nicht gegen die Protestierenden vorgehen, sie aber auch nicht schützen. So fürchten viele einen Angriff durch die
Baltagia
. Doch es bleibt friedlich. Die Demonstranten feiern ein Sommerfest mit eiskaltem Hibiskustee und gegen 22 Uhr gehen alle nach Hause. Es ist ein großer Erfolg der Jugend der Revolution und der liberalen und linken Kräfte. Sie zeigen, dass sie die Menschen im Griff haben. Zugleich haben sie bewiesen, wie einflussreich sie inzwischen geworden sind. Diese mehrere Zehntausend Demonstranten sind nämlich gekommen, obwohl die
Muslimbruderschaft
und auch andere islamistische Gruppen die Teilnahme im Vorfeld abgelehnt haben.
Das Misstrauen zwischen Liberalen und Linken einerseits und islamischen Gruppen andererseits nimmt immer mehr zu. Dabei scheinen die Positionen eigentlich gar nicht so weit auseinanderzuliegen. Auch die meisten Liberalen wollen, dass der Islam eine Rolle im Staat spielt. So soll der Regierungschef ein gläubiger Mensch sein, der sich an die Gebote der Religion hält. Die Islamisten hingegen wollen die Scharia als Hauptquelle der Rechtsprechung, so wie es seit 1971 in der Verfassung steht. Sie wollen keine Regierung durch Geistliche, sondern ebenfalls einen Politiker, der ein guter Muslim ist. Der Unterschied scheint gering, könnte aber dennoch – so fürchten Liberale, Intellektuelle und Künstler – unter anderem Auswirkungen auf ihren Lebensstil |135| haben: Wie viel Kuss-Szenen werden noch im Kino gezeigt? Wird Muslimen das Trinken von Alkohol im Restaurant verboten? Wie ist das mit Tächteleien zwischen Unverheirateten? Viele fürchten um ihre kleinen Nischen der Freiheit, die nicht einfach zu bewahren sind in einer Gesellschaft wie Ägypten.
»Die Gesellschaft ist sehr konservativ«, sagt Ahmed Abdallah. Der Regisseur hat einen erfolgreichen Film über die Undergroundszene von Alexandria gemacht. Es habe sich sicherlich einiges getan seit der Revolution und der Aufstand der Mädchen in den Familien habe auch manches aufgebrochen: »Aber, dass sie ihre Töchter demonstrieren lassen, bedeutet noch nicht, dass sie auch aushalten können, dass es Hip-Hop gibt.« Er halte es daher für unwahrscheinlich, dass Institutionen wie die Zensurbehörde im neuen Ägypten abgeschafft würden: »Es gibt viele, selbst Intellektuelle, die es richtig finden, dass unsere Gesellschaft vor schädlichen Einflüssen geschützt wird«, sagt er. Das Einzige, was helfe, sei die langsame Veränderung des Bewusstseins, sagt Bassma al Husseini, Mitbegründerin der »Mawred al Thakafi – Quelle der Kulturinitiative«. So bemühen sich in diesem Frühjahr Künstler und Aktivisten, möglichst viel Kultur unters Volk zu bringen. Nach dem Motto: Wenn sie sich jetzt daran gewöhnen, werden sie es nicht mehr als Bedrohung empfinden und dann können die Kulturnischen Stück für Stück ausgedehnt werden.
Zu der Spaltung in Liberale und Islamisten kommt ein weiterer, noch tieferer Graben: Er verläuft zwischen der gebildeten Elite, welche sich an politischen Debatten beteiligt, und der Masse der Bevölkerung, die vor dem Fernseher sitzt und auch eine Meinung hat, deren Stimme aber nicht gehört wird. Vor dem Willen des Volkes scheint sich die Elite zunehmend zu fürchten; unter ihnen auch jene Politiker, die behaupten, im Namen eben dieses Volkes zu sprechen. Dies ist der Hintergrund |136| der Forderung vieler liberaler und linker Kräfte, die Parlamentswahlen im September zu verschieben und zunächst eine Verfassung zu erarbeiten. Immer wieder behaupten Politiker, dass die Masse der
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