Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
Generation Y eher ‹ich› sagt. Das Eigeninteresse könnte aber in beiden Fällen gleich groß oder gleich eingeschränkt sein. ‹Ich› muss nicht egozentrisch gemeint sein, auch wenn es von Älteren gern so interpretiert wird.»
Die nach 1980 Geborenen seien es schlicht gewöhnt, sehr viele Wahlmöglichkeiten zu haben und ständig Entscheidungen treffen zu müssen – so werde der Kollektivismus der Babyboomer automatisch durch eine Gesellschaftsform abgelöst, in der der Einzelne zwar mehr Auswahl, aber auch mehr persönliche Verantwortung habe.
Tatsächlich hatten wir schon von früher Kindheit an die Wahl: Tennis oder Fußball oder Basketball oder Schwimmen? Theater AG , AG Kunst oder Computerkurs? H&M oder Zara? Adidas, Nike oder Puma? Studium oder duale Ausbildung oder Au-pair-Jahr? RTL , Pro Sieben, Viva oder MTV ? Sprachkurs in Spanien, Surfkurs in Griechenland oder doch Sommercamp im Allgäu? Werbung, Medien, Lehrer und Eltern versprachen uns die große Freiheit, verlangten aber auch, dass die eigenen Möglichkeiten optimal ausgeschöpft werden – wo es doch so viele gibt. Das zog sich bis hin zur Berufswahl. Platt ausgedrückt: Früher studierte das Bildungsbürgerkind und wurde Lehrer, Anwalt oder Arzt. Die meisten bewegten sich in der Regel nicht allzu weit von ihrem Heimatort weg, heirateten, bekamen Kinder, bauten ein Häuschen. Heute gibt es allein x verschiedene medizinische Fachrichtungen. Und Tausende Studienrichtungen, bei denen das Berufsbild überhaupt nicht klar ist. Für sein Glück ist da jeder selbst verantwortlich – eine Position, wie sie die FDP nicht individualistischer formulieren könnte.
Hin und wieder fuhren wir für unsere unendlichen Wahlmöglichkeiten sogar Mitleid von älteren Generationen ein: Die armen Kleinen, die müssen ja furchtbar verwirrt sein. Ständig diese Unsicherheit, ständig das Gefühl, etwas zu verpassen, ständig dieses Informationsüberangebot.
Dazu kommt, dass es natürlich auch unter den Jungen Leute gibt, die überhaupt nicht die großen Wahlmöglichkeiten haben – selbst wenn sie wollten. Einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes aus dem Jahr 2012 zufolge haben 1 , 44 Millionen Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren keine Lehre abgeschlossen oder einen Beruf erlernt. Die Zahl der Ungelernten bis 34 Jahre liegt sogar bei 2 , 2 Millionen. Für die sieht es auf dem Arbeitsmarkt finster aus, denn was die Wirtschaft vor allem sucht, sind hochspezialisierte Fachkräfte.
Doch wenn sie in Umfragen gefragt werden, geben die meisten nach 1980 Geborenen an, dass sie auf die Qual der Wahl unter keinen Umständen verzichten möchten – auch wenn sie zuweilen schwerfällt.
Außerdem ist es für uns nicht nur normal, viele unterschiedliche Informationen zu bekommen, sondern sie auch auszuwerten. Sei es nun ein passendes Studium unter zahlreichen verschiedenen Fachrichtungen herauszufinden oder die besten Turnschuhe im Internet zu bestellen. Überall und ständig werden wir mit Vorschlägen, Ratschlägen, Warnungen und Empfehlungen beschallt. Um wieder zur Wirtschaft zurückzukommen: Entsprechend viele Informationen erwarten wir auch von Arbeitgebern, für die wir uns interessieren.
Mehr Alternativen bedeutet gleichzeitig auch mehr Transparenz. Unternehmen, Organisationen (aber auch politische Parteien) stehen stärker in Konkurrenz zueinander und werden nach verschiedensten Faktoren ausgecheckt, zum Beispiel im Internet. Sie müssen Informationen über sich preisgeben, um den Jungen überhaupt eine Auswahlmöglichkeit zu bieten – sonst sind sie von vornherein raus aus dem Rennen. Sie müssen im Netz aktiv sein, Interessenten an sich binden, sich von anderen abheben.
Das kann natürlich auch mächtig ins Auge gehen. Viele Unternehmen mussten in den vergangenen Jahren erleben, wie Internetnutzer Fehlverhalten öffentlich anprangern und PR -Desaster verursachen. Denn das Preisgeben von Informationen im digitalen Zeitalter ist durchaus riskant – Lügen werden schnell und für alle sichtbar aufgedeckt, dämliche Kampagnen als ebensolche benannt, liebloses digitales Engagement nicht gewürdigt, leere Phrasen als solche enthüllt. Transparenz muss ehrlich und aufrichtig gemeint sein, nur dann wird sie akzeptiert. Ein schlechtes Produkt lässt sich auch durch eine Facebook-Seite nicht in ein gutes verwandeln, ganz im Gegenteil. Das ist ziemlich hart und auch nicht immer gerecht – aber gleichzeitig fördert es den Wettbewerb unter den
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