Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
und zotteligen Vollbärten zu Beginn ausgelacht und bewusst missverstanden wurden. Wie gezielt Kampagnen geschürt wurden, sie als Bedrohung für Anstand und Moral hinzustellen.
Oder wenn sie es nicht vergessen, dann gelingt es ihnen nicht, sich und ihre Gefühle von damals realistisch und nüchtern ins Heute hinüberzuretten. Wo bleibt denn da bitteschön die Phantasie? Die Empathie?
Mit der Realität hat das, was sich ergraute Intellektuelle und besorgte Eltern über «das Internet» zusammenphantasieren, ohnehin wenig zu tun. Zum einen ist allein die Unterscheidung zwischen «virtueller» und «realer» Welt für uns widersinnig. Wir haben in unserer Jugend erlebt, wie das Netz die Welt verändert hat, sind mit dem Netz aufgewachsen. «Digital Natives» heißen wir deswegen, weil wir uns im Netz selbstverständlich bewegen, es ist für uns eine natürliche Umgebung. Studien haben ergeben, dass die meisten von uns mitnichten versuchen, dort jemand zu sein, der sie in der «realen Welt» nicht sind. Im Internet sind die Menschen gut und böse, gemein und mitfühlend, lustig und grausam, klug und dumm – genau so, wie sie in der «realen» Welt auch sind.
Und auch den «Freunde»-Begriff, an dem sich die Eltern so stören, müssten sie eigentlich differenzierter betrachten. Niemand, kein junger Mensch mit Verstand, würde behaupten, dass alle seine 500 Facebook-Freunde echte «Freunde» seien. Es sind Bekannte, Kollegen, Menschen, mit denen man bestimmte Interessen teilt oder die man vielleicht vor langer Zeit einmal kannte und zu denen man auf diese Weise Kontakt hält. Und ja, manche davon sind auch Freunde. Seien es nun Freunde, die man aus der Schule, der Uni, von der Arbeit kennt – und mit denen man über Facebook Kontakt hält, sich verabredet, kleine Schwätzchen während der Mittagspause hält. Die meisten davon kennen wir also auch außerhalb des Internets.
Aber klar, es gibt auch tatsächlich Leute, die wir irgendwann mal «in diesem Internet» kennengelernt haben. Warum auch nicht? Freundschaften entstehen an den seltsamsten Orten, Online-Freundschaften vertiefen sich oft anschließend im «Real Life». Aber nicht immer. Das müssen sie auch nicht. Genauso vielfältig, wie die Welt ist, sind auch Freundschaften und Bekanntschaften. Und wenn ich nun mal einen Facebook-Freund habe, mit dem mich nichts verbindet außer der Lieblingsband, dem Lieblings-Onlinegame –
why not?
Ich treffe inzwischen viele Leute, zum Beispiel Kollegen von anderen Medien, erst einmal auf Twitter. Später sehe ich sie vielleicht mal auf einem Parteitag, einer netzpolitischen Veranstaltung oder bei einer Diskussionsrunde wieder. Und meistens habe ich dann das Gefühl, die Leute schon viel länger zu kennen als nur ein paar Minuten. Und das ist nett, es macht Spaß, es hilft mir auch bei meiner Arbeit als Journalistin. Für dieses Buch habe ich mit vielen Leuten gesprochen, denen ich auf Twitter folge, die mir dort aufgefallen sind, weil sie kluge oder witzige Dinge gesagt oder getan haben.
Deswegen habe ich natürlich trotzdem größtenteils Freunde, die ich im «Real Life» kennengelernt habe: in der Schule, an der Uni, in der Redaktion, auf Partys, über Freunde. Und natürlich habe ich zu denen ein anderes Verhältnis als zu den Twitter-Bekanntschaften. Doch beides möchte ich nicht missen.
In Wahrheit steckt hinter dem Unverständnis der Alten ein Konflikt, der über die Nutzung von Facebook und Twitter weit hinausgeht. Während für unsere Elterngeneration ein skeptisches Verhältnis zur Technik als modern galt, als unangepasst und rebellisch, ist sie für ihre Kinder wichtiger als je zuvor. Umweltschutz, Kommunikation, Transparenz, Mitbestimmung und Kunst – all das ist für uns ohne technologischen Fortschritt überhaupt nicht denkbar. Dass manche technologische Entwicklung unseren Eltern noch als Bedrohung für den Menschen galt – und für die Umwelt erst recht –, ist für uns unvorstellbar. Angst vor bösen Handystrahlen kennen wir nur aus Erzählungen.
Das Internet ist für uns deswegen auch keine eigene Welt, sondern eine Erweiterung der «realen Welt» – ein Ort, wo man mit Freunden reden kann, wo man Informationen bekommt, wo man spielen und Spaß haben kann, ein Medium also, das gleichzeitig Telefon, Bibliothek und Fernseher ist. Aber auch ein Ort, der in höchstem Maße politisch ist. Hier werden Demos organisiert, hier diskutieren Journalisten mit Politikern und Bürgern.
Und nicht nur das Netz
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