Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
aufgesessen sind. Da ging es tatsächlich um die Frage, ob es in Zeiten von sozialen Netzwerken und angesichts der Menge an privaten Daten im Netz überhaupt noch eine Privatsphäre geben kann – oder ob wir uns von dem Gedanken verabschieden müssen. Es gab einige relativ vehemente Verfechter dieser These, darunter auch ein paar mehr oder minder bekannte Piraten. Und natürlich passte das auch ganz prima in das Bild, das die Alten von dem hatten, was die Jungen da «in diesem Internet» machen. Die meisten Jungen haben aber ihre Privatsphäre doch ganz gern und wollen keinesfalls, dass restlos alles öffentlich ist.
Es kursiert eigentlich schon seit Jahren ein recht einfacher Grundsatz, der einen Großteil der Bedenken gegen die Transparenzforderung aus dem Weg schaffen müsste: Natürlich soll nicht jede Handlung eines jeden Menschen transparent sein – ganz im Gegenteil, die Bürger sollten vor einem allzu neugierigen Staat geschützt werden. Ebenso übrigens vor allzu neugierigen Unternehmen. Diese Einstellung sieht man nicht zuletzt an den zahlreichen Protesten gegen Änderungen von Datenschutzbedingungen bei Facebook. Der Staat hingegen sollte den Bürger schon darüber informieren, was er so macht – immerhin geben wir seinen Vertretern Vertrauen (im Zuge von Wahlen).
Und selbst in der Politik gibt es Einschränkungen. Wir wollen überhaupt nicht jede Fraktionssitzung einer jeden Partei im Internet sehen, wir wollen auch nicht den genauen Kontostand eines jeden Politikers wissen. Und am allerwenigsten wollen wir jedes zwischenmenschliche Drama, das sich in Parteien naturgemäß hin und wieder abspielt, eins zu eins nachverfolgen.
Politiker, die sich gegenseitig auf Twitter beschimpfen, die jede persönliche Beleidigung in Blogeinträgen auswalzen und die jede Verfehlung eines Kreisvorstands behandeln, als wäre sie ein Staatsskandal, braucht nun wirklich niemand. Hier ist es völlig richtig, lieber ein Gespräch hinter verschlossenen Türen zu suchen. Niemandem ist damit geholfen, wenn Politiker jede Gefühlsregung ins Netz kippen. Denn dass sich innerhalb einer Partei alle Leute automatisch lieben müssen, kann ja wohl keiner verlangen. Ebenso wenig, dass es nie Streitereien gibt. Die Piraten zum Beispiel haben mit nach außen getragenen internen Streitigkeiten den größten Teil ihrer frisch gewonnenen Anhängerschaft gleich wieder vergrault.
Und noch weniger interessieren uns private Eskapaden – wer mit wem besoffen abgestürzt ist, welches Kondom gerissen, wer wem die Freundin ausgespannt hat. Nicht, weil wir es peinlich finden oder weil wir spießig sind, sondern weil es schlicht nicht interessiert, weil die übermäßige Inszenierung von Privatleben eher misstrauisch macht als Vertrauen schafft. Denn im Prinzip macht es keinen Unterschied, ob sich einer als biederer Familienvater oder als ausgeflipptes Partytier präsentiert, der Inhalt bleibt immer irgendwie auf der Strecke.
Deswegen haben Politiker natürlich genauso ein Recht auf Privatsphäre wie jeder andere Mensch auch. Niemanden gehen die Geliebten eines Ministerpräsidenten etwas an, niemanden die Scheidung einer Abgeordneten. Die Kinder von Politikern sollten ebenso tabu sein wie die Partner, Eltern oder engsten Freunde, es sei denn, der Betroffene will es anders. Denn von Erkenntnissen aus dem Privatleben eines Politikers kann man nicht immer auf die Politik schließen. Auch viele junge Wähler finden es übertrieben bis unangenehm, wenn Abgeordnete über ihr Sexleben twittern. Doch es spricht ja wohl nichts dagegen, mal über einen spannenden Kinobesuch zu schreiben, mal witzig zu sein. Die Lieblingsbücher eines Politikers können manchmal mehr über ihn aussagen als jede Parteitagsrede.
Anders ist das natürlich, wenn Politiker Verbrechen begehen, sich bestechen lassen oder selbst bestechen. Aber das bezweifeln ja nicht einmal die schärfsten Kritiker der Transparenz. Klar ist die Gratwanderung hier ziemlich schwer. Denn anderseits wollen wir ja schon auch wissen, was ein Politiker für ein Mensch ist, nicht nur einfach eine leere Hülle, einen Aggregator für Phrasen wählen. Sondern einen Menschen.
Wir wollen Politikern eben auch nicht mehr blind vertrauen – und haben allen Grund dazu. Wir haben gemerkt, dass sich Politiker einen Doktortitel erschwindelt haben, wir sehen, wie Lobbyisten mehr und mehr Einfluss auf Abgeordnete nehmen können, und ahnen gerade erst, dass das wahre Ausmaß der Einflussnahme noch viel größer ist
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