Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Titel: Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Beitzer
Vom Netzwerk:
plötzlich den Facebook-Account mit fiesen Posts zumüllt. Wenn die
Bild
-Zeitung im Namen des Volkes titelt, dann kann man notfalls immer noch sagen: Ist halt Boulevard. Auf Facebook stecken hinter der Ablehnung auf einmal echte Menschen, die von der Politik eine Lösung für ihre ganz privaten Probleme verlangen.
    Bisher waren es Politiker nicht gewohnt, auf Schritt und Tritt mit der Meinung der Menschen konfrontiert zu werden. Sicher, es gab kritische Journalisten, die sie in die Pfanne hauten. Aber die waren gleichsam Teil des Systems, sie kamen nicht von außen, sondern gehörten zur Politik dazu. Sie betrachteten das System eher in ihrer Rolle als Experten denn in ihrer Rolle als Bürger. Inzwischen ist das völlig anders. Kommentare bei Facebook, Twitter, aber auch unter Artikeln im Netz wirken inzwischen genauso auf Politiker ein wie früher ein kritischer Fernsehmoderator.
    Nicht selten gingen in letzter Zeit auch Kampagnen aus dem Netz hervor. Das bekannteste Beispiel ist wohl Karl-Theodor zu Guttenberg, der – so schreiben es sich die Digital Natives auf die Fahne – vom Internet zu Fall gebracht wurde. Er musste als erster führender Politiker lernen, dass so ein Schwarm doch ganz schön clever sein und eine fehlerhafte Doktorarbeit in kurzer Zeit enttarnen kann. Seine medial sorgfältig geplante Karriere hielt dem Hagel an wütenden Kommentaren nicht stand.
    Sicher, nicht «das Internet», sondern die
Süddeutsche Zeitung
machte zuerst auf die Fehler in der Doktorarbeit aufmerksam. Doch eine wahre Lawine ergab sich erst im Netz, Plagiatsjäger fanden in Windeseile mehr und mehr Fehler, sodass die bewährte Strategie «kleine Fehler zugeben, große Fehler aussitzen» nicht mehr verfing.
    Klassische Alphatiere verlieren in diesem Prozess automatisch an Macht – nicht nur, weil sie einer stärkeren und vielfältigeren Kontrolle ausgesetzt sind. Es ist auch weit schwieriger, im Netz seine Dominanz auf einem bestimmten Gebiet zu verteidigen. Anstelle der starken Einzelposition treten viele kleine Meinungsschnipsel. So liegt die Führungskompetenz zwangsläufig nicht mehr nur in der Hand derjenigen, die diese lange Jahre wie von selbst, also qua Beruf, innehatten – seien es nun Parteichefs, Chefredakteure oder Wissenschaftler. Sie liegt vielmehr in der Hand derjenigen, die überzeugen können, die vernetzt denken und arbeiten und die Input von außen nicht als Bedrohung, sondern als Chance wahrnehmen. Jene kritischen Stimmen, die befürchten, Deutschland werde bald von Administratoren regiert – also von Menschen, die Informationen verwalten, anstatt sich von den eigenen Vorstellungen, Visionen und ideologischen Richtlinien leiten zu lassen –, liegen deswegen nicht ganz falsch.
    Nur ist diese Vorstellung für die jüngere Generation nicht so erschreckend wie für die ältere. Es ist ihre Form der Basisdemokratie. Sie sind es gewohnt, durch Klicks und Kommentare kleine Beiträge zu einer großen Diskussion, einer virtuell koordinierten Aktion zu leisten – die auch gerne einmal in Straßenproteste umschlagen kann, wie das bei den Protesten gegen das Urheberrechtsabkommen Acta der Fall war.
    Allein hier sieht man, dass der öffentliche Raum im klassischen Sinne nicht mehr vom virtuellen zu trennen ist. Wer nun den freien Informationsfluss im Internet einschränken will, der steht gleich im Verdacht, die alten Herrschaftsstrukturen verteidigen zu wollen – Herrschaftsstrukturen, die wir ablehnen. Wir haben unsere Chance erkannt, auf eine neue und uns angenehme Art Einfluss zu üben und, ja, auch Macht zu kosten. Mit der viel beschworenen «Umsonstkultur» hat der Einsatz für ein freies Internet deswegen nur am Rande zu tun.
    Auch die Occupy-Bewegung speiste sich aus einem ähnlichen Gefühl: die Nase voll zu haben von den großen Mackern, die die Welt lenken. Stattdessen träumten die Demonstranten von einer Bewegung, in der jeder ein Anführer und gleichzeitig Basismitglied ist, in der jeder das gleiche Rederecht hat – und der Schwarm darüber entscheidet, wer wie lange sprechen darf. Der rasche Niedergang dieser Bewegung zeigt auch, wie schnell die absolute Basisdemokratie in Streit und Hader ausarten kann und die Ziele unter Umständen unkonkret bleiben.
    In der spanischen und portugiesischen Protestbewegung, die maßgeblich aus den Erfahrungen der Krise entstanden ist, zeigt sich bis heute ein absoluter Unwille, sich von einer Führungsfigur leiten oder auch nur mit ihr identifizieren zu lassen.

Weitere Kostenlose Bücher