Wir Wunderkinder
Gesicht hatte man auf dem Photo weggeschnitten, weil es als Zeichen der Zeit nicht zu verwenden war. In der Wohnung eines Flaschenbierhändlers klopfte ich Teppiche, während Wera Staub wischte. Sie zerbrach eine scheußliche Vase mit dem Bild des Niederwalddenkmals, und wir mußten froh sein, daß unser vereinbarter Lohn als Schadenersatz anerkannt wurde. Von unserer erfolgreichen Tätigkeit in der Vergnügungsbranche wird zu gegebener Zeit noch zu reden sein.
Ein Glück war es für uns, daß der Höhepunkt der Inflationsraserei in die schönste Jahreszeit fiel. So konnten wir Theater und Kino entbehren, die wir doch nicht hätten bezahlen können, und machten uns zu Mitakteuren im uralten Naturschauspiel der Nacht und der Liebe – unbezahlt und unbezahlbar, doch einer den andern beglückend. Wir lernten unsern Text immer besser, ohne allzuviel Zeit auf Dialoge zu verschwenden.
In einer Nacht zwischen Flieder und Jasmin gingen wir, eng aneinandergelehnt, durch den großen alten Park, in dem Kühle von den raschen, kalten Bächen aufstieg. Zwischen den Zweigen der unbewegten Bäume war das matte Halblicht mondlosen Sternenhimmels. Das Gras wurde feucht, und auch die Bänke beschlugen sich. Wir beschlossen, zum Rundbau auf den Monopteroshügel hinaufzugehen, diesem sympathischen Stück bajuwarisch empfundenen Griechenlands. Auf dem dürftig beleuchteten Hauptweg, von der Universität her, kamen uns einige Gestalten in leidlichem Schritt und Tritt entgegen, die singend versicherten, daß sie die Reaktion seien. Wir bemühten uns, nicht von ihnen gesehen zu werden.
»Spießgesellen deines Schulkameraden Tiches«, sagte Wera.
»Deines Duzfreundes«, sagte ich.
»Danke«, antwortete Wera. »Dennoch sei er gesegnet.«
»Wieso?«
»Weil er uns zusammengeführt hat …«
»Er sei gesegnet! – Vielleicht bleibt es sein einziger Ruhm auf dieser Welt.«
»Hoffentlich«, sagte Wera.
Das war, für jene Zeit und in Anbetracht unserer Verliebtheit, ein sehr langer und bedeutender Text. Einen weiteren, mit eingebauter Milieuschilderung, sprachen wir, als wir schon auf den noch tagwarmen Marmorstufen des Rundtempelchens saßen.
»Jasmin«, sagte ich.
»Bei uns daheim im Baltikum blüht er viel später, und die Blüten sind größer. Die weißen Nächte im Hochsommer sind ganz erfüllt von Jasminduft.«
»Warum seid ihr denn nach dem Kriege nicht wieder dorthin zurückgegangen, wenn es da größere Blüten und hellere Nächte gibt?« fragte ich mit einem eifersüchtigen Vorbehalt gegen ihre Heimat, die ich nicht kannte.
»Weil uns die neuen Herren dort unsere Güter weggenommen haben. Dir kann das doch recht sein«, sagte sie, und ich sah, trotz des matten Lichts, jene drei reizenden Querfältchen auf ihrer Nase, die mich immer reizten, sie durch einen Kuß geradezubügeln.
»Außerdem dürftest du gar nicht so für allzu helle Nächte sein.«
»Allerdings«, antwortete ich forsch.
Weiterer nennenswerter Text wurde in dieser Nacht von uns nicht mehr gesprochen. Es sei denn, man rechne die Spielregeln für ein Gesellschaftsspiel hinzu, das Wera sich ausdachte und das wir gehorsam durchspielten. Wir beschlossen nämlich, uns so oft zu küssen, als wir es von den Türmen der Münchner Kirchen schlagen hörten. Beim erstenmal ging das sehr gut.
»Mein Gott, es ist schon fünf«, sagte Wera.
»Du irrst, es ist viertel zwölf. Die Nacht ist ungewöhnlich hellhörig. Man hört die Uhren von fünf Türmen schlagen.«
»Das gibt eine schöne Arbeit!« seufzte sie.
Bis zwölf kamen wir noch leidlich durch. Danach wurde es anstrengend. Die Glocken begannen zwar in kleinen Zeitabständen anzuschlagen, aber dann ging es mit einemmal durcheinander, langsamer und schneller, hoch und tief. Weil wir gewissenhaft waren, zählten wir bis sechzig, und da war es beinahe schon wieder Viertel eins, und wir mußten von neuem anfangen. Immerhin gab es später einige Verschnaufpausen, und erst als es hell wurde, fing es an, sich wieder zusammenzuläppern.
Ich muß dazu noch sagen, daß wir darum in dieser Nacht nicht schlafen gingen, weil wir um fünf Uhr morgens in einer Motorenfabrik zum Abschmieren antreten mußten. Nur auf Grund ihres feudalen Stammbaums hatte es Wera bei einem der Werksdirektoren erreicht, daß sie mit mir zusammen diese Männerarbeit tun durfte. Unser Fünfmalfünf-Glockensoll erfüllten wir vorfristig bereits um vier Uhr fünfzehn, ehe wir uns auf den Weg zu unserer Arbeitsstätte machten.
Alles Schmieröl
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