Wir Wunderkinder
Garage, sondern im Herrschaftsflügel ab –, und wir zwei Mädchen hatten uns so schön wie möglich gemacht. Wir bauten uns selbdritt auf, in der Mitte Vetter Fritz mit blauer Mütze, und erwarteten die Kerzenprozession, die Bruno Tiches hereingeleitete.
Was jetzt kommt, ist einfach unbeschreiblich. Fritz stelzt seinerseits auf Bruno zu. Die beiden rucken ihre Mützen vom Kopf und stehen einander so steif gegenüber, daß man förmlich sieht, wie ihre Nackenhaare sich den Rücken runter sträuben. Dann schmettert Tiches seinen Namen, küßt uns Mädels die Hand und sagt was von ›hoher Ehre‹ und ›gebührend zu würdigen wissen‹.
Daraufhin lüftet wieder Fritz sein Mützchen und sagt todernst: ›Darf ich den Herrn Kommilitonen bitten, sich geohrfeigt zu fühlen!‹
Du kannst Dir den Effekt nicht vorstellen. Brunos Mund klappte auf und zu, ohne daß ein Wort herauskam.
Dann wieder Fritz: ›Darf ich Sie auf die Toilette bitten!‹
Auf einmal lachte Tiches laut und schallend. Vielleicht hat er wirklich geglaubt, daß hier nur ein feudaler Spaß angezettelt worden war. Aber Fritz ließ ihn darüber nicht lang im unklaren. Er fragte eisig:
›Die Toilette gehört doch wohl mit zu Ihren Arbeitsplätzen, Herr Korpsdiener einer löblichen Saxo-Albingia?‹
Und da geschah, was mich für Augenblicke sogar ein bißchen Mitleid mit Deinem früheren Kameraden empfinden ließ. Bruno machte auf dem Absatz kehrt und raste wortlos davon, aus dem Saal, durch die langen, hallenden Steinkorridore, in die dunkle Nacht hinaus. Einen unserer Kerzenträger rannte er dabei einfach über den Haufen. Wirklich, ich hab mich für die nicht gerade noble Racheszene, die wir gespielt haben, ein bißchen geschämt. Aber denk Dir, dieser Hochstapler! Ist gar kein Student und schmarotzt sich mit Mütze und Band durch das ganze Land Niederbayern. Was soll aus so einem bloß werden … {28} ? Wir standen zunächst etwas begossen da, als die Tür hinter Tiches zugeknallt war. Aber dann haben wir unsere schöne Aufmachung benutzt, um ein kleines Fest en trois zu feiern. Titti fuhr nachher noch mit Vetter Fritz ein Stündchen im Auto weg. Ich mußte allein ins Bett gehen.«
Ja, das war es! Das ist diese tolle Begebenheit in Bruno Tiches' Leben, die sich entscheidend auf seine ganze künftige Laufbahn ausgewirkt haben mag. Daß dies, in seinem Sinne, positiv geschähe, hätten wir uns damals freilich nicht träumen lassen. In unserem weiteren Briefwechsel äußerten wir sogar Besorgnisse, Tiches könne sich wegen der unerträglichen Demütigung etwas angetan haben – aber dazu war er wohl zu dickfellig. Auch vergaßen wir seinen Fall um so mehr, je näher wir unserem Wiedersehen kamen.
Dieses Wiedersehen war über alle Begriffe schön. Ich war schon früher in den D-Zug eingestiegen, in den Wera in Regensburg zusteigen mußte. Sie ahnte nichts davon. Ich sah sie im vorzeitig kalten Septemberregen die Abteiltüre öffnen, und sie stieg geradewegs in meine Arme. Wir blieben während der ganzen Fahrt am Gangende des letzten Wagens stehen, von wo wir auf die feucht glänzenden Schienen hinausschauen konnten.
Aber wir sahen die Schienen gar nicht – wir sahen nur uns. Mit einem Kopfsprung war ich wieder in den tiefsten Gründen der Melusinenaugen verschwunden und sah dort strudelnde Schiffsräder und fremde Flaggen und ein Mädchen, das sich meinetwegen nicht umzudrehen brauchte. Es wurde Frühling und Sommer zugleich in dieser Herbstnacht. Die Läutesignale der Reichsbahn akzeptierten wir gewissenhaft als Glockentöne, und wenn keine Signale läuteten, hörten wir inwendig welche. Wir beschlossen, unsere Sommerlegende über den Winter hinweg zu konservieren.
Am nächsten Morgen fiel mir beim Erwachen etwas auf den Kopf. Es war der Stahlhelm, den ich in meiner seligen Verwirrung von der Zimmerwand zu entfernen vergessen hatte. Wera küßte die Beule auf meiner Stirn, und ich schlug mit dem Hammer die aus dem Stahlhelm. Kindisch albern, wie wir waren, stellten wir uns dabei das gegenteilige Verfahren vor.
Bruno Tiches mag zu dieser Zeit den folgenschwersten Schritt seiner Laufbahn bereits vollzogen haben; denn in seinen Tagebüchern findet sich schon unter dem 17. September die nachstehende Eintragung:
»Ich habe meine Stellung bei der Saxo-Albingia aufgegeben. Ich halte die Verbindungen allesamt für überlebt. Sie sind genauso faulig und wurmstichig wie unser deutscher Adel, mit dem man zu gegebener Zeit mal Fraktur reden muß.
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