Wir Wunderkinder
Welle knapp bis zu den Schultern. Und diese großen, graublauen, etwas verschleierten Augen, die Wera auf mich richtete, während sie mit Bruno Tiches sprach! Ich ganz unpoetisch Gewordener fand in diesem Augenblick, ich erinnere mich genau, einen wandervogelseligen Ausdruck dafür: Melusinenaugen zum Dreinversinken.
»Guten Tag. Wie geht es Ihnen?« sagte Wera.
»Wie geht's denn Titti?« redete Tiches weiter, ohne sich um mein Dazwischenreden zu kümmern. »Ist sie immer noch so munter?«
»Die Prinzessin? Danke, meiner Kusine geht's ganz gut.«
»Wo lebt ihr denn?«
»Auf einem Schloß in Niederbayern. Bei Straubing.«
»Schloß – Donnerwetter!«
»Es ist halb so schlimm. Die armen Verwandten im Kavaliersflügel. Früher nannte man es Dienstbotentrakt.«
»Paßt mal auf, ich komm' bestimmt in den Semesterferien auf Besuch!«
Wera beantwortete diese fröhliche Selbsteinladung meines einstigen Schulkameraden nicht, so daß ich mich für ihn zu schämen begann und lebhaft bedauerte, daß gerade er bei diesem Wiedersehen mit meinem Kindheitsschwarm dabei sein mußte. Aber wer weiß, ob ich Wera ohne ihn überhaupt gefunden und wiedererkannt hätte.
»Sind Sie immer bei Wolfflin?« fragte ich rasch, ehe Tiches zu weiteren Taktlosigkeiten Zeit fand.
»Natürlich! Sie auch?«
»Natürlich.«
»Da können wir uns ja zusammensetzen.«
Nach diesem Wort wurde mir unbeschreiblich wohl zumute.
Alle versäumte Seligkeit meiner Kindheit erschien nun als mögliche, nahe Wirklichkeit. Ich versank unrettbar in die tiefsten Abgründe der Melusinenaugen.
»Na, Tiches! Auch mal in der Uni?« fragte in diesem Augenblick eine leicht schnarrende Stimme hinter uns, und eine Hand in hellbraunem Glaceleder legte sich auf die Schulter meines Landsmannes und Schulkameraden.
Mit dem geschah jetzt etwas, was ich bisher nie an ihm gesehen und auch nie für möglich gehalten hätte: Er wurde rot.
»Jawohl, Herr Graf«, sagte er halblaut.
»Aber nicht vergessen«, fuhr die nicht unsympathische Stimme fort, »Sie müssen mir bis drei noch den Knopf an die Pekesche nähen.«
»Jawohl, Herr Graf.«
Der sehr distinguiert gekleidete Student mit der roten Mütze ging davon.
Wera lachte ihm hinterdrein.
»Ihr näht euch gegenseitig die Knöpfe an?« fragte sie Bruno amüsiert.
»Die Saxo-Albingia legt Wert auf eine spartanische Fuchsenerziehung«, murmelte Tiches.
»Das geht so weit, daß ihr euch siezt?«
»Es ist unser aristokratisches Prinzip«, sagte Tiches, mit nun wieder kräftiger gewordener Stimme und verabschiedete sich plötzlich sehr eilig und mit einem kurzen Gruß. Die Aristokratin Wera sah ihm verwundert nach.
Nachtstücke (II)
Aus den Aufzeichnungen des Bruno Tiches:
28. Mai 1923
»Hielt gestern beim großen Kommers auf der Toilette einem Alten Herrn den Kopf, der nachher sehr erleichtert war. Gehört führenden rheinischen Industriekreisen an und verwickelte mich in ein längeres wirtschaftspolitisches Gespräch. Meinte, ich sei intelligent und hätte eigentlich auch studieren sollen. Ich sagte ihm, durch welche Machenschaften ich am Abschluß meiner Bildung gehindert worden bin {22} . Auch den Ausspruch von Meisegeier sagte ich ihm: ›Die Juden sind unser Unglück.‹ Darauf er: ›Tja.‹ Mehr konnte er noch nicht sagen, da er wohl auch noch an gewisse überstaatliche Mächte gebunden ist. Daraufhin sagte ich, daß ich das Wort von Meisegeier auch in der Partei verbreite. Da setzte er sich auf die Brille, sah mich bedeutungsvoll an und fragte: ›Meinen Sie, daß man diese Leute unterstützen soll?‹ – ›Nur!‹ antwortete ich. Zum Unglück kam in dem Augenblick Graf R. herein, der schon viel getrunken hatte, und rief: ›Herrschaften, laßt mich hier auch mal – {23} .‹ Da zeigte sich nun die tolle Erziehung von dem Alten Herrn. Er zog vor dem Hinausgehen, obwohl er sich bloß zur Unterhaltung auf die Brille gesetzt hatte. Solches Herrenmenschentum müßte man mit den Idealen der Partei vereinigen können.«
Mai 1923 – und das sind die Sorgen von Bruno Tiches gewesen! Wir hatten überhaupt keine, Wera und ich. Die Nacht des Wahnsinns lag über Deutschland, die Mark raste in wilden Delirien dem Abgrund entgegen, und wir liebten uns. Vor dem großen Hörsaal, dem ›Max‹, hatte unsere Liebe begonnen, und in ihm hörte sie nicht auf.
Es ist nur gut, daß ich später beim Examen nicht über Goya geprüft worden bin, denn das Glück unseres Beisammenseins ließ uns seine kriegerischen
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