Wir Wunderkinder
Begriffe schön und verlockend – nach einem kalten, häßlichen Vorfrühling –, daß sogar bei Heinrich Wölfflin im Auditorium Maximum Plätze leerblieben. Ich saß jetzt wieder ›im Parkett‹, seit die sächsische Romanin ihren Studienort gewechselt hatte. Auf den freien Platz neben mir setzte sich Bruno.
»Na, sieh mal an, Landsmann«, sagte er jovial, »so trifft man sich wieder.«
Sein kameradschaftlicher Ton und eine alberne heimatliche Sentimentalität ließen mich ihn herzlicher begrüßen, als er es verdient hatte.
»Studierst du?« fragte ich ihn.
»So nebenbei!« antwortete er mit einer weiten Handbewegung.
»In welcher Fakultät?«
Tiches ließ sich nicht gern verhören, obwohl er doch, wie ich jetzt weiß, zu verhören gekommen war. Seine Erwiderung wirkte schroff und ungeduldig.
»Du weißt ja, in welchem Beruf ich praktisch angefangen habe.«
»Bankwesen natürlich«, sagte ich etwas gestelzt zu dem inflationistischen Banklehrling im Ruhestand. »Und nun erwirbst du dir das theoretische Rüstzeug?«
»Eben!« bestätigte Tiches kurz.
Ich wollte ihn gerade fragen, wie er denn überhaupt studieren könne, da er doch damals vorzeitig aus unserer Schule ausgeschieden wäre, als es im Saal dunkel wurde und der große Gelehrte in den Hörsaal trat, vom Gedonner der Füße stürmisch begrüßt. Auf der weißen Leinwand begann ein spukhaftes Schauspiel von Feuersbrünsten, Erschießungen, Folterungen und Schändungen, von allen wüsten Greueln des Krieges, die der große Spanier Goya in seiner graphischen Folge ›Desastres‹ dargestellt hat.
Mit forschend zusammengekniffenen Augen und einer Stimme, die leidenschaftslos erscheinen konnte, sprach der Kunsthistoriker seine Deutungen, die dennoch den erregten Herzschlag eines ohnmächtig anklagenden Künstlers leidenschaftlich mitfühlen ließen.
Mein einstiger Klassenkamerad schien nur gelegentlich interessiert, so als in riesiger Leinwandvergrößerung ein halbnackter, bis über die Schenkel entblößter Frauenkörper gezeigt wurde, der auf einen Leichenkarren gezerrt wird.
»Allerhand!« murmelte er vor sich hin.
Einmal bat er mich auch um einen Bleistift, und ich reichte ihm dazu dienstbeflissen mein schwachkerziges Taschenlämpchen, mit dem ich manchmal hinter der vorgehaltenen Hand Notizen zu machen pflegte. Er schrieb etwas auf einen Zettel. Was es war, konnte ich nicht lesen. Soviel war jedoch zu erkennen: daß der Name Goya nicht dabeistand.
Bruno Tiches' Gesicht machte einen merkwürdig zufriedenen Eindruck, als am Ende der Kollegstunde das Licht im Saal wieder eingeschaltet wurde.
»Hat's dich interessiert?« fragte ich.
»Ziemlich«, antwortete Bruno. »Ich schau gelegentlich mal wieder rein.«
Und da ich mich gerade zu jener Zeit in der sonst so geliebten Stadt etwas einsam fühlte, versicherte ich ihm, wie sehr mich ein Wiedersehen freuen würde.
»Habt ihr noch mehr Gesinnungsgenossen von dem?« fragte er obenhin, während wir schon die Stufen hinab und dem Saalausgang neben dem Katheder entgegengingen.
»Wie meinst du das?« fragte ich verdutzt.
»Na, ich meine so Charaktere!« – seine Stimme bekam etwas Biedermännisches, redlich Schwingendes – »liberale Männer, Pazifisten und so.«
Ich empfahl ihm begeistert und ahnungslos beinahe meine ganze Dozentenliste. Als wir eben unter die Tür getreten waren, rief Tiches:
»Mensch, da ist ja Wera!«
»Wer ist Wera?«
»Das Russenmädel. Die aus dem Schloßgarten neben deiner Tante.«
Mein Gott, war es möglich: Eins der beiden Märchengeschöpfe aus Tante Remmys Nachbarschaft sollte nach so vielen Jahren jetzt und hier wieder auftauchen? Ich sah Tiches im Gewühl der in der Zwischenpause durcheinanderstrudelnden Studenten und Studentinnen verschwinden und einem Mädchen die Hand auf die Schulter legen. Ich lief ihm nach und erreichte ihn, als er schon die ersten Worte mit dem fern verehrten Jugendtraum gewechselt hatte, von dem ich als schweigender Anbeter nie gewußt hatte, daß er Wera hieß.
Das Mädchen, mit dem Bruno sprach, war wirklich die kleine Baronesse aus dem Park, für die ich auf Befehl ›Gedichte mit Mädchen und Liebe‹ gemacht hatte. Nun, da ich sie wiedersah, wußte ich sogleich, daß ich keine Gedichte mehr auf sie würde machen können, obwohl mich bei ihrem Anblick ein schmerzhaft ziehendes und zugleich wunderbares Gefühl durchlief.
Ich starrte sie an. Ihr damals langes, offenes Haar war nun kurz geschnitten und floß in einer schönen
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