Wir Wunderkinder
heute noch Heimat und Sommer und werden es bis ans näher rückende Ende meiner Tage bleiben. Jetzt lese ich diese leicht angegilbten, dünnen Blätter mit der großen, steilen Schrift wie eine holde Legende.
3. August. »Du, wir haben ein eigenes Stück Donau! Vom Schloß zieht sich ein Streifen Laubwald bis an den Strom hinunter. Wenn Du beispielsweise in Wien wärest, könnten Dir die Wellen was von mir erzählen. Ich bade immer allein dort unten und denke dran, wie schade es ist, daß Du Dich damals nicht über den Zaun getraut hast. Dann kennten wir uns schon so viel länger. Man kann sich gar nicht lang genug kennen.«
4. August. »Denk Dir, Lieber, heute früh hab ich im Halbschlaf unwillkürlich an der Wand nach oben gelangt, ob der Stahlhelm dahängt. Danach war ich traurig.«
5. August. »Unser Ufer ist so einsam, daß man ungeniert in der Sonne einbrennen kann. Wenn Schleppzüge kommen, kann ich mich immer noch in Ruhe hinter den Büschen verstecken. Dann schau ich durch die Zweige und sehe, wie die Schaufelräder im Wasser pladdern und silberne Sonnenstrahlen aufwühlen, während die Schlepper stromauf nach Regensburg dampfen. Wenn ich wieder an meinem Platz liege, krieg' ich oft noch was von ihrem schwarzen Schornsteinrauch in die Nase, und ich sehe in der Ferne eine Flagge verschwinden – eine ungarische, rumänische, tschechische. Das macht Reisesehnsucht. Ob ich mal mit Dir reisen darf {25} ?«
6. August. »Nachts höre ich nur zwei Uhren schlagen: eine von der Dorfkirche und eine vom Ecktürmchen des Herrschaftsflügels. Sie schlagen beide sehr langsam und unmittelbar nacheinander. Das wäre großartig für unser Spiel. Meinst Du nicht auch? Bloß ein bißchen wenig.«
7. August. »Heute kam ein Polizeiboot ganz schnell um die Flußkrümmung, als ich dicht am Wasser stand. Ich konnte nicht mehr zu den Büschen entkommen, sondern mich bloß noch umdrehen. Die Polizeimänner suchten was mit Ferngläsern. Mich sicher nicht.«
Ich hätte sie gesucht … Aber warum habe ich sie nicht gesucht? Warum bin ich so brav zu Mutters Kochtöpfen zurückgekehrt, statt mich im Lande Niederbayern herumzutreiben wie Bruno Tiches? So konnte ich mir Wera nur im Schlaf und in wachen Träumen vorstellen, ganz Melusine jetzt, am silbernen Flußwasser und unter wehendem Laub.
Tag für Tag bekam ich einen Brief von ihr, sogar an den Sonntagen, weil wir die Post aus einem Schließfach holten. Einmal stieß ich, lesend, unter der Postamtstür mit Evelyna Meisegeier zusammen. Sie sah mich sonderbar an, und es kam mir vor, als sei sie noch hübscher geworden. Aber sie interessierte mich überhaupt nicht mehr.
Und dann kam mit einemmal der dramatische Akzent in das lyrische Geplätscher unseres Briefwechsels – in der gleichen Woche, da in Bruno Tiches' Tagebüchern der seltene Fall eintritt, daß sich darüber keine Aufzeichnungen finden.
Am 8. September geschah ihm, was ich am 10. September in einem Brief von Wera las.
9. September. »Lieber, gestern ist bei uns die Bombe geplatzt! Ich schrieb Dir schon, daß Tiches ein paarmal aus Straubing angerufen hat und meine KusineTitti sprechen wollte. Er sprach am Telefon immer von ›Hoheit‹, und wir platzten beinahe vor Lachen. Titti ließ sich zunächst verleugnen. Du weißt ja, wir mögen Korpsstudenten und dergleichen Leute überhaupt nicht sehr. Aber wir haben selber so ein Prunkstück bürgerlicher Salons in der Familie, einen Baron Friedrich von R.-W. {26} , einen gutmütig harmlosen Knaben mit einem bescheidenen schauspielerischen Talent. Den haben wir in unsere Verdächte wegen Deines Klassenkameraden eingeweiht. Fritz gehört zwar zu einem anderen Verband, fragte aber gleich bei der Saxo-Albingia in München wegen der näheren Umstände an, und da …
Aber nein, ich muß es andersrum erzählen. Also vorgestern ließ sich Titti endlich von Deinem Bruno {27} am Telefon erreichen. Er war sehr forsch und duzte ›Hoheit‹, was sie gar nicht gern mochte. Trotzdem ›gab sie sich die Ehre‹, Herrn stud. ich-weiß-nicht-was Tiches für den nächsten Abend einzuladen. Er fragte, ob er in Couleur kommen dürfe. ›Nur!‹ schrie Titti ins Telefon und jauchzte dabei so, daß er eigentlich Verdacht hätte schöpfen müssen.
Du, wir haben am nächsten Abend einen Zauber veranstaltet! Eigentlich schade, daß er nicht Dir im Ernste gegolten hat! Diener mit brennenden Kerzen an der Haustür und am Saaleingang – das Ganze spielte sich natürlich nicht in unserer
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