Wir Wunderkinder
›Desastres‹ vergessen. Ich benutzte mein Taschenlämpchen nicht mehr zu wichtigen Kollegheftnotizen, sondern leuchtete damit verstohlen Weras Handflächen ab und freute mich ihrer kräftigen Herzenslinie. Es machte meiner mathematischen Unbegabtheit alle Ehre, daß ich im dunklen Hörsaal immer wieder ihre Finger nachzählte, und in meiner durch die unsicheren Zeiten genährten Besitzangst vergewisserte ich mich sogar vom Nochvorhandensein ihrer Beine. Wir kamen uns wie die letzten Paradieseskinder in einer verrückten Welt vor.
Noch im Mai mußte ich meine Wohnung aufgeben, weil der Krankenkassenangestellte, bei dem ich in Untermiete wohnte, mich samt meinem ›Fräulein‹ aus der Tür wies. Als ich ihm Weras Nam' und Art nannte, hohnlachte er. Zum Glück fand ich ein neues Zimmer bei einer Generalswitwe in Schwabing. Sie war eine zierliche alte Dame und wies auf den Stahlhelm, der über meinem künftigen Bett an der Wand hing.
»Sie sind hoffentlich traditionsbewußt«, sagte sie.
Daraufhin brachte ich das nächste Mal als Beweis Wera mit und stellte sie zeremoniell mit ihrem recht umfangreichen Namen vor. Wera machte etwas, das einem Hofknicks ähnlich sah, und die Gunst der alten Exzellenz war gesichert. Für uns beide.
Wichtiger noch wurde in der Folgezeit, daß wir auch die Gunst der Exzellenzköchin gewannen, eines frommen, alten Weibleins, das mit unseren von der Liebe und den Dollarkursen bedingten schmalen Wangen Mitleid hatte. Sie kochte heimlich für uns mit, und wenn wir, hungrig vom Mensa-Essen, auf mein Zimmer kamen, das ich aus Traditionsbewußtheit nicht ›Bude‹ zu nennen wagte, hatte sie bereits ein komplettes Generalswitwenmenü unter meinen Waschtisch geschoben. Von der Suppe bis zum Nachtisch gab es da Dinge, die ein Student in jener Zeit nur vom Hörensagen kannte oder über die er allenfalls in der kulturhistorischen Abteilung der Staatsbibliothek nachlesen durfte. Als Gegenleistung verlangte die gütige Köchin, die offenbar Punkte in guten Werken sammelte, nichts weiter, als daß ich sonn- und feiertags zur Kirche ginge. Ich erfüllte ihren Wunsch, nahm ein Gesangbüchlein in die Hand und traf mich mit Wera im Englischen Garten.
So genossen wir in diesem köstlichen Mai beides: meine exzellente Wohnung und die öffentlichen Anlagen der Stadt München. Wir waren albern wie Minderjährige, die wir ja auch noch halb und halb waren. Wir photographierten uns gegenseitig und gemeinsam, mit Blitzlicht und Selbstauslöser. Mit Plüschdecken und Samtportieren drapierte ich Wera auf große Dame, die sie ja eigentlich war, oder als verworfenes Geschöpf, wozu sie bescheidene Anlagen zeigte. Sie rächte sich, indem sie mich als Stilleben mit dem Stahlhelm und einigen zu Blumenvasen verarbeiteten Granathülsen dekorierte.
Im allgemeinen verbannten wir jedoch dieses kriegerische Gerät aus unserer Nähe, da es abscheulich klirrte, wenn es herunterpurzelte oder umfiel. Nur wenn eine Besichtigung des Zimmers durch Exzellenz drohte, stellten wir die Tradition wieder her. Übrigens war die alte Dame reizend, und oft, wenn ich sie mit meiner sehr gesitteten Wera plaudern sah, bekam ich Gewissensbisse wegen unserer heimlichen Mitesserei.
Unser Studium freilich wurde immer mehr durch die Extravaganzen des Dollars als durch die Vorträge berühmter Gelehrter bestimmt. Die Hörsäle leerten sich, und der Andrang vor den Anschlagtafeln, an denen offene Stellen für Werkstudenten bekanntgegeben wurden, wuchs von Tag zu Tag. Zuletzt erschien es aussichtslos, sich dort überhaupt noch anzustellen, weil die Radfahrer den Fußgängern die wenigen ausgeschriebenen Stellen wegschnappten, und weil meistens eine Horde leibesgeübter starker Burschen, die obendrein Radfahrer waren, eine Phalanx vor den schwarzen Tafeln bildete.
Weras Melusinenaugen durchbrachen auch die Phalanx. Und weiß der Himmel, wie sie damals zu einem Fahrrad gekommen ist – keinem Damenfahrrad übrigens, sondern einem männlichen Vehikel, von dem ich mutmaßte, daß es aus Oskar von Millers Vorratskellern für das werdende Deutsche Museum entwendet war. Mit seiner Hilfe schaffte sie es, daß wir beide unsere Brief- und Aktentaschen mit Geldscheinen auffüllen und täglich die lebensnotwendigen Milliarden oder Billionen verdienen konnten.
Bei einer Ausstellung verkauften wir zusammen Kekse, und Weras Bild erschien in einer Abendzeitung mit der sozialkritischen Unterschrift: »Zeichen der Zeit: Baronesse als Keksverkäuferin.« Mein
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