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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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roch uns an diesem Vormittag nach Flieder und Jasmin, und Wera zuckte zusammen, als die Werksglocke lang anhaltend zur Vesperpause schrillte …
    Es ist sonderbar, daß mir nun alle diese süßen Erinnerungen wiederkommen, obwohl sie weit weg führen von der forschen Zielbewußtheit im Lebenslauf des Bruno Tiches. In den Tatsachenbericht kann ich sie beim besten Willen nicht mit aufnehmen.
    Freilich, wenn ich nachdenke – vielleicht wäre es doch richtig, sie zu erwähnen …
    Ich bin nämlich erst vor kurzem wieder in München gewesen und saß oben auf dem Monopteroshügel, in der Zeit zwischen Flieder und Jasmin. Ein bißchen kälter waren die Marmorstufen geworden, aber das mochte an mir liegen. Auch junge Pärchen küßten sich, wie damals. Doch, wie soll ich's nennen, sie küßten sich mit soviel realistischem Ernst, so zielbewußt, so ganz unbeeinflußt von Düften, Sternen und Glocken.
    Vielleicht, meine ich, sollte man ihnen deshalb von dem Glockenspiel erzählen, das eine baltische Baronesse vor einem Menschenalter erfunden hat. Damit wieder ein wenig mehr an Phantasie und Tradition in die Welt komme.

Sommerlegende
    Der Sommer 1923 entschied so viele Schicksale, daß von ihm ausführlich wird erzählt werden müssen. Zunächst beginnt es ganz idyllisch, auch in Brunos Aufzeichnungen.
    1. August
    »Ich bereue nicht, nach Niederbayern gereist zu sein. Sie nennen sich die Kornkammer Bayerns und haben es auch recht dicke hier. Trotz der blödsinnigen Geldentwertung kommt man nie in Schwierigkeiten, wenn man in Couleur ist. Die Akademiker sind hier zwar meistens Katholen und nicht satisfaxionsfähig (sie!), aber vor den Farben Saxo-Albingias haben sie doch mächtigen Respekt. Ich halte mich vor allem an Veterinärmediziner und Nationalkomiker {24} .«
    8. August
    »Heute nacht sogar in einem Pfarrhaus geschlafen. Gab tolles Essen da. Habe mich dem alten Herrn zuliebe sehr positiv über den Papst ausgesprochen. Wenn der wüßte …«
    10. August
    »In Pfarrkirchen haben sie mich abends beim Stammtisch darauf hingewiesen, daß in der Stadt ein Bundesbruder von der Saxo-Albingia wohnt. Mit dem nächsten Zug weitergereist.«
    23. August
    »Werde doch später nach Straubing kommen, als ich dachte. Sahne jetzt ein bißchen die Dörfer ab. Gerade bei Nichtakademikern ist unsereins besonders angesehen.«
    2. September
    »Sedantag! Straubing!!! Schon von der Bahn aus das Schloß an der Donau gesehen!!!«
    Nun muß ich freilich ein wenig in meinen eigenen Erinnerungen und Dokumenten kramen, ehe ich die dramatischen Entwicklungen in dem Schloß an der Donau schildern kann. In jenem Sommer 1923 war ich zum erstenmal wieder in den Ferien nach Hause gefahren. Die kleine Heimatstadt kam mir merkwürdig verändert vor, so als sei sie in der Wäsche – oder in den beharrlichen Regengüssen dieses Jahres – eingegangen. Die Straßen schienen schmäler und die Häuser niedriger geworden zu sein. Im Vergleich zur Münchner Universitätsfreitreppe war das Treppchen meiner einstigen Schule zu einer Hühnerleiter geworden, und sogar die ehemaligen Lehrer erschienen mir eingeschrumpft.
    Bis auf die Familie Meisegeier, die sich um einen spätgeborenen, diesmal weiblichen Sproß von exotischem Aussehen vermehrt hatte (im Vorjahr war ein Großzirkus im Städtchen gewesen), fand ich auch die Bevölkerung reduziert. Tante Remmy war gestorben, ihr Kavaliershäuschen stand leer, und sie hatte meinen Eltern eine Spieluhr hinterlassen, deren Repertoire in ›Fischerin, du kleine‹ bestand.
    Onkel Bense verkehrte nicht mehr mit uns. Er erklärte meinen liberalen Vater den ›Roten‹ zugehörig, die er für die Inflation und die Vernichtung seiner Sparguthaben verantwortlich machte. Er trat der Partei von Bruno Tiches bei, deren Ortsgruppe der älteste Meisegeier bald nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis gegründet hatte. Später wurde Onkel Bense sogar Blockleiter und durfte eine Uniform tragen.
    So sehr hatte sich das Heimatstädtchen verändert, daß ich mich fremd in ihm fühlte und sehnsüchtig auf Weras Briefe wartete. Sie waren mein ein und alles, meine Heimat und mein Sommer.
    Auf kuriose Weise habe ich Weras Briefe über alle nachfolgenden Untergänge hinweg bewahren können, und nun werden sie mir im Falle Tiches zu wertvollen, unantastbaren Quellen. Insgeheim aber – das darf ich im Tatsachenbericht natürlich nicht aussprechen und wage es, bei aller Liebe, auch meiner Frau nicht einzugestehen – sind sie mir auch

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