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Wir Wunderkinder

Titel: Wir Wunderkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hartung Hugo
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Möge dieser Tag bald kommen. Ich werde jedenfalls alles daransetzen, ihn durch meine tatkräftige Initiative zu beschleunigen. Ich habe nunmehr beschlossen, Politiker zu werden {29} .«

Haremsnächte
    »Gestern nachmittag ging ich über den Stiglmaierplatz. Da kam ein offenes schwarzes Auto. Weil gerade Arbeiter an den Schienen gearbeitet haben, mußte es langsam fahren. Und da sah ich, daß A.H. {30} hintendrin saß. Ich hatte ihn bisher immer nur von weitem gesehen, im Zirkus Krone und so. Jetzt habe ich ›Heil‹ gerufen und ›Deutschland erwache‹ und habe den Arm weit ausgestreckt. Da ist er aufgefahren, hat herübergeguckt und mich fest angesehen, mit seinen berühmten stahlblauen Augen. In diesem Augenblick habe ich ihm ewige Treue geschworen. Ein Gleisarbeiter, ein offensichtlicher Marxist, rief mir danach zu: ›Laß wenigstens uns Bayern weiterschlafa, du preißischer Hammi!‹ Denen werden wir ein Erwachen bereiten …«
    Diese überraschende Tagebuchnotiz von Bruno Tiches werde ich natürlich schon darum im Wortlaut veröffentlichen müssen, weil sie auf so frappante Weise der Eintragung über die Begegnung mit Kaiser Wilhelm II. im Jahre 1913 ähnelt. Für den Psychologen mag es interessant sein, daß diesmal der Satz vom Treueschwur nachträglich nicht überklebt wurde, was darauf hindeutet, daß Tiches auch nach 1945, trotz gegenteiliger Äußerungen, innerlich zu diesem Schwur stand. Eine weitere bedeutsame politische Anspielung finden wir in Brunos Aufzeichnungen zwei Tage später:
    »Die Inflation soll zu Ende gehen. Für unsere Sache war sie gut. Sie hat das Volk davon überzeugt, daß die Zinsknechtschaft gebrochen werden muß. Wir sind in der Partei jetzt alle sehr optimistisch, daß wir bald losschlagen können.«
    Diese Zeit, in der die Tichesse so optimistisch gewesen sind, wurde für Wera und mich die schlimmste. Wir waren Ende September vorzeitig aus den Ferien zurückgekommen, weil wir von einem Freund gehört hatten, daß in München ein Großfilm ›Odysseus‹ gedreht werden sollte, zu dem noch Studenten als Statisten gesucht würden. Wir sahen darin eine Chance, Geld zu verdienen, und hegten außerdem romantische Vorstellungen vom Filmbetrieb, auf deren Hintergrund bei mir uneingestanden die Hoffnung keimte, als Schauspieler entdeckt zu werden.
    Als wir beide uns bei der studentischen Arbeitsvermittlung meldeten, erfuhren wir, daß der Drehbeginn des Films wegen Finanzierungsschwierigkeiten auf unbestimmte Zeit verschoben werden müßte. Uns schwammen alle Felle weg. Die Aussichten auf einen anderen lohnenden Verdienst waren gering, denn während der Ferien wurden nicht allzu viele Studenten angefordert. Doch hing am Schwarzen Brett eine Ausschreibung, daß noch einige männliche und weibliche Studenten als Rekommandeure für das Oktoberfest gebraucht würden.
    »Was ist denn das?« fragte Wera.
    »Ich weiß auch nicht«, antwortete ich, meinte aber, das Wort klänge recht seriös verwaltungsmäßig.
    Als wir uns bei der Festleitung auf der Theresienwiese meldeten, wurde uns erklärt, daß ›Rekommandeure‹ Anreißer vor den Schaubuden seien und daß man dafür Erfahrung besitzen und zu reden verstehen müsse. Uns verschlug's die Rede. Aber weil wir kein Geld hatten, gingen wir zu einem Unternehmen, bei dem noch irgendwelche Statistenstellen frei sein sollten.
    Wir fanden eine langgestreckte Bude, auf deren Wände neben kakaobraunen Muskelmännern verführerisch entkleidete Mädchen in Seifenfarben gemalt waren – ein Jahrzehnt später wurde so etwas zur offiziellen Staatskunst. Quer über die Schaubude lief ein von roten elektrischen Glühbirnen eingefaßtes Schild ›Kraft und Schönheit‹, und auf einem angelehnten Plakat stand das Programm zu lesen: ›Original Tarzan, der Urwaldmensch‹, ›Sulamith, das blaue Weib (Jugendverbot)‹, ›Breithaupt, der Eisenkönig‹, ›Bimbo und Bombo, die lustigen Vagabunden‹, ›Orientalische Haremsnächte??? (Pikant, spannend, erregend! Nur abends!)‹
    »Da gehen wir nicht rein«, entschied ich.
    »Ich geh' doch rein«, sagte Wera.
    Sie ging um die Bude herum, und ich folgte ihr in einem kleinen Abstand. In einem sauber gehaltenen Wagen sahen wir einen mürrischen Mann an einem Klapptisch sitzen und eine Kalbshaxe benagen.
    »Was wollt ihr denn?« fragte er, der sich offensichtlich in seinem Genuß gestört fühlte.
    Mir lief das Wasser im Munde zusammen.
    »Die Festwiesenleitung hat uns zu Ihnen geschickt, Herr Direktor –«,

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