Wir Wunderkinder
allein
In den Kieler Turnverein,
Fiel vom Reck,
Fiel in' Dreck,
Bums, da war die Nase weg.«
Kirsten lachte und sagte:
»Der wird einmal wieder in Deutschland ssu Hause sein.«
»Hoffentlich!« antwortete ich. »Immerhin einer, der allein geht und singt.«
Da begann es zu donnern, und ein jäher Sturmstoß wirbelte Staubwolken auf.
»Es geht los!« sagte ich.
Ende des zweiten Buches.
DRITTES BUCH
Der getretene Hund
Drunten im Tale lag die Stadt mit unversehrten Häusern und gefüllten Kleiderschränken. Mit Leuten, die sonntags Sonntagsanzüge trugen und Blumen auf die Gräber ihrer Toten stellten. Selbst auf dem eingesunkenen, von Efeu überwucherten Grab meines einstigen Lateinlehrers Gorgo hatte ich einen Wiesenblumenstrauß gefunden, obwohl der alte Mann ohne Nachkommen gestorben war. Ich suchte vom Berghang aus, an dem ich saß, das Dach des Elternhauses. Nach dem Brand hatte es neue, hellrote Ziegel bekommen. Ich fand nirgends welche. Da fiel mir ein, daß in mehr als drei Jahrzehnten auch hellrote Dächer grau werden können – so wie ich es geworden war.
Der Abendrauch stieg senkrecht aus den Schornsteinen der Stadt. Irgendwo dort unten würde Kirsten das Essen für mich und die beiden Kinder kochen – das gleiche wie jeden Tag: Pellkartoffeln mit brauner Zwiebelsauce. Kirsten hatte eine ›Sswiebelbessie-hung‹, wie sie das in ihrem unveränderten Gilleleje-deutsch nannte, und Zwiebelsauce war besser als die gewöhnliche Mehlschwitze.
Bevor es Nacht wurde, konnte ich nicht in die Heimatstadt zurückkehren, denn ich hatte einen Zentner Kartoffeln auf meinem Wägelchen geladen. Bei hellichtem Tag durfte ich mit so kostbarer und gefährlicher Konterbande nicht durch die Straßen fahren, die durch Flüchtlinge und Evakuierte viel belebter waren als in meiner Kindheit, und in denen jetzt ebensooft rheinisch wie schlesisch gesprochen wurde.
Die Stille tat wohl. Im Fichtenwald hinter mir rührte sich kein Ästchen. Die große parolen- und kommandofreie Stille war das wunderbarste Geschenk dieser Zeit. Um sie ganz zu genießen, schloß ich die Augen.
Ich muß darüber in einen sanften Dämmerzustand geraten sein; denn als es hinter mir im Walde zu knacken begann, nahm ich Deckung, wie man mich's gelehrt hatte.
Das armselige Mannsbild, das dürres Reisig hinter sich herschleifte, war kein Grund, sich zu fürchten. Zu Militärstiefeln trug es grünliche Breeches, wie sie schon seit zwei Jahrzehnten aus der Mode waren, graugrüne Gamaschen mit einem umgeschlagenen, gemusterten Rand und ein viel zu weites, gelbliches Jackett, aus dem ein abgemagerter Vogelkopf grotesk herauswuchs. Die Augen des Reisigschleppers musterten mich durch eine dicke Brille.
»Bist du's wirklich?« fragte das dürre Wesen. »Ich hätte dich beinahe nicht erkannt. Wir haben uns ziemlich verändert – .«
»Wir?«
Ich war nicht sogleich geneigt, dieses Elendsbild vor mir in eine Beziehung zu mir selber zu setzen, obwohl auch Kirsten einigermaßen erschrocken gewesen war, als sie in der Holzwanne des Waschhauses den Graben- und Lagerdreck von mir abgeschrubbt hatte. Aber dem da vor mir war gleichsam die Luft herausgelassen worden, die ihm einst seinen wunderlich schwebenden Ausdruck gegeben hatte, und nun war dieses schlaffe Häutchen also Andreas, des Gasdirektors Sohn und mein vormaliger Klassenkamerad.
»Setz dich, Andreas«, sagte ich und hielt ihm die Hand hin.
Dabei dachte ich ›Armer Kerl‹ und erschrak, als ich in seinen Augen auch ein ›Armer Kerl‹ las.
»Du hast was Elegantes an«, sagte Andreas; denn man begann damals immer mit dem Fernliegenden, weil die brennenden Städte, die zusammengestürzten Häuser, die Angst- und Todesschreie noch zu schmerzhaft waren.
»Ein abgeschnittener Frack, schon ein bißchen ins Grünliche verschossen«, erklärte ich meine Kleiderpracht. »Kirsten hat ihn aus einer Flüchtlingsspende im Rathaus organisiert. Sie hat ihn zu einer Kletterweste umgemodelt. Meine Frau ist in so was groß.«
»Meine nicht! Ich hab' das da« – Andreas deutete auf den weiten Rock, der dem dünnen Männchen etwas grotesk Clownhaftes gab – »von einem ehemaligen Kollegen, unserm dicken Komiker, der jetzt hier auf den Dörfern herumtingelt. Es war furchtbar anständig von ihm, aber ich darf natürlich nichts dran ändern lassen.«
Ich lachte:
»Komisch, daß wir ausgerechnet mit modischen Dingen anfangen.«
»Wie wir uns das letzte Mal gesehen haben«, sagte Andreas, »packtest du
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