Wir Wunderkinder
weil es überhaupt keinen Sinn hatte, hier noch weiterzureden. Ich begann ohnehin schon, mich selbst für verrückt zu halten.
»Ja, ich habe«, sagte Bruno und holte aus seinem Bauch heraus einen zusätzlichen Ton menschlicher Wärme, »ich habe eine Zeitlang mitgemacht, und vielleicht wirst du noch mal einsehen, daß Leute wie ich immer noch das Schlimmste verhindern konnten. Wer weiß, wo du wärst, wenn ich nicht heimlich meine schützende Hand über dich gehalten hätte.«
Da stand er nun vor mir, Bruno Tiches, Banklehrling a. D. gewesener Machthaber und Repräsentant eines untergegangenen Regimes, stützte sich auf einen Stapel fabrikneuer Töpfe, Ia Friedensware, und wollte, daß ich ihm dankbar wäre.
Ja, mußte ich ihm vielleicht nicht dankbar sein? Hätte mich Kirsten ›organisiert‹, wenn er nicht gewesen wäre – hätte ich nicht ohne sein Eingreifen brav in der Redaktion meine Seele verkauft, wie der alte Geheimrat Prozeller? Mein Denken geriet in Sackgassen. Die Herbstsonne schien jetzt unzeitgemäß heiß, mir wurde flau im Magen von zwölf langen, steilen Wegkilometern und vor Hunger. Ich spürte auf einmal, wie das Dorf sich um mich zu drehen begann und der dicke Mann mit den Töpfen sich mitdrehte …
Ich erwachte auf einer harten Wirtshausbank im Gasthaus ›Zur Dorflinde‹. Vor mir standen eine Flasche Schnaps und ein Berg mit Schinkenbroten.
»Mann, Sie haben ja schlappgemacht«, sagte die Wirtin. »So was passiert heute öfters. Das da« – sie deutete auf die märchenhaften Dinge auf dem Tisch – »hat Ihnen Ihr Freund, der Herr Anders, bestellt. Er mußte leider schon weg.«
»Er heißt anders«, sagte ich, noch etwas wirr und matt.
»Na eben«, antwortete die alte Frau. »Nun essen Sie erst mal!«
Als sie hinausgegangen war, aß ich heißhungrig zwei von den dick belegten Broten, trank von dem Kornbranntwein, der mich wieder belebte, und war gesinnungslos genug, die übrigen sensationellen Brote heimlich im Rucksack zu verstauen.
Es ging mir an diesem Tage auch weiterhin kurios. In der Abendstunde fand ich einen Mann beim Zwetschenstehlen. Weil der Dieb schon sehr alt war, half ich ihm beim Schütteln der Straßenbäume. Er tat die Beute in einen großen Henkelkorb, den er mit Rübenblättern tarnte. Als sein Korb voll war, sagte er zu mir:
»Kamerad, nimm dir, was noch rumliegt.«
Ich füllte meinen Rucksack mit den duftenden Früchten, die am Straßengraben oder auf dem anrainenden Stoppelfeld lagen.
»Wenn uns aber der Besitzer von den Bäumen erwischt?« fragte ich.
Der Alte lachte:
»Der bin doch ich. Aber die Besatzer haben alle Bäume beschlagnahmt. Da muß ich eben bei mir selber klau'n!«
Diesmal sang ich laut vor mich hin, als ich die Stadt mit ihren Lichtern im Talgrund liegen sah. Ich hatte heute einem Mann sein Eigentum stehlen helfen und hatte einen Täter getroffen, der sich als Opfer seiner Taten fühlte. Was konnte solcher Widersinn bedeuten, als daß aus seinen Krämpfen eine neue Welt entstehen mußte, eine andere und bessere, in der die Menschen genügsamer, bescheidener und vernünftiger sein würden als vor der Katastrophe?
Es war kein Wunder, daß meine Gillelejesche sich vor Aufregung diesmal schon am Abend ihre langen Beine einklemmte, als ich auf dem Bettrand ihres Streckdichlagers saß und ihr von der Begegnung mit Bruno Tiches erzählte.
Der Glückstag
Die Not machte gewissenlos und wenig wählerisch in den Mitteln. Ich lag, in etwa fünfzig Meter Entfernung von unserem Haus, am Straßenrand hinter einer Hecke und wartete. Ich gab acht, daß ich mich durch kein Klirren verriet. »Lärm abstellen!« – dieses oft gehörte Kommando meines Kriegsdienstes kam mir nun zugute. Ein Pferdewagen fuhr vorüber. Noch einer. Ich lauerte mit gespannten Sinnen. Nichts! Hinter mir keuchte ein Zug über den Bahndamm, von einer müden, asthmatisch röchelnden Lokomotive gezogen. Ich dachte daran, daß wir gestern Post bekommen hatten, einen Brief aus München. Er war diesmal nur sechs Wochen unterwegs gewesen, und wir waren richtig stolz darauf.
Da! Wieder kam etwas um die Ecke. Wie ein olympischer Sprinter duckte ich mich. Jetzt! Ich preschte durch die Hecke, mit hocherhobener Schaufel – und stand einem Mann gegenüber, der auch die Schaufel hob.
»Was fällt Ihnen ein!« schrie er mit einer hohen, überkippenden Altmännerstimme. »Vor meinem Grundstück!«
»Ach, das ist doch egal«, brüllte ich zurück und nahm mir die noch heiße
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