Wir zwei allein
Lichtblume, dann Dunkelheit. Die Detonationen jetzt aus der Ferne, aus Haslach, aus Sankt Georgen. Gutes Neues!, sagt jemand neben mir. Ein Pärchen torkelt Arm in Arm vorbei. Jemand lacht.
25 Wenn ein Irokese den Tod kommen spürt, zieht er sich in den Wald zurück. Er nimmt nichts mit außer seinen Waffen. Er wandert tagelang umher, bis er zu schwach zum Gehen wird. Er sucht sich einen Felsen. Er klettert hinauf und kauert sich zusammen. Er blickt über die Baumkronen und die Hügel. Er legt sich ins Moos, rollt sich ein, beginnt zu singen. Er singt, bis der Gesang nicht mehr aus seinem Mund, sondern aus den Bäumen und aus dem Stein unter ihm kommt. Er schließt die Augen. Ein Irokese stirbt in dem Tal, in dem er geboren wurde. Er stirbt unter den Bäumen, die ihn haben aufwachsen sehen. Ein Irokese merkt, wenn er nicht mehr in die Welt passt, die sich gewandelt hat und die nicht mehr seine Welt ist.
26 Ich will, dass du mich küsst, sage ich.
Theres steht in der Wohnungstür, eine Hand noch an der Türklinke, mit der anderen hält sie den Kragen ihres Pyjamas zusammen. Sie ist richtig erschrocken, als sie die Tür aufmachte und mich sah. Nach Mitternacht bin ich auf den Kanonenplatz auf dem Schlossberg gestiegen. Ich habe sie um das Münster herum gesucht, wo alle auf das neue Jahr anstoßen wollten. Ich habe den Rest der Nacht auf einer Bank im Eschholzpark verbracht. Bis mir der Tabak ausging.
Es ist noch nicht mal hell, sagt sie. Musst du nicht schlafen?
Nein, Theres. Nein. Ich werde nicht schlafen, bevor du mich nicht geküsst hast. Du musst mich küssen. Hier und jetzt.
Wie meinst du das?, fragt sie. Sie blickt auf meinen Fuß hinunter, der in der Türschwelle steht. Sie schaut mich an. Gott, ist es kalt, sagt sie und lacht, haucht sich in die Hände. Das Jahr fängt ja gut an, oder?
Theres.
Wir sollen uns küssen?
Ja, wir. Wer denn sonst? Wir gehören zusammen.
Sie schüttelt den Kopf. Wie schön sie ist, wenn dieser Kampf in ihren Augen losgeht. Wenn die Mühe des Denkens ihre Stirn zusammenzieht.
Ich lasse dich nicht wieder rein, Theres. Tief in deinem Innern weißt du es. Hörst du nicht schon immer diesen Ton? Ist er nicht eigentlich schon da, seitdem du mich kennst? War er nicht da, sobald ich zu dir hallo gesagt habe, und du zu mir? Damals bei Rudi, bei diesem Stromausfall?
Das Tempotuch in meiner Hosentasche besteht aus Sägemehl und Fusseln. In meinem Bauch ist alles am falschen Platz. Die Kälte kriecht meinen Rücken hinauf und zählt vorne meine Rippen, eine nach der andern.
Stromausfall?, sagt Theres. Ich verstehe nicht.
Doch!, rufe ich. Du verstehst es, das weiß ich.
Sie schaut mich wieder an. Diesmal sucht sie nach etwas in meinem Gesicht. Ich blicke ihr in die Augen, bis sie zur Seite schaut. Ihre Finger kratzen am Putz neben der Klingel. Sie lehnt sich gegen den Türrahmen. Sie atmet aus. Ich mache einen Schritt auf sie zu. Meine Beine knicken fast ein. Ich mache noch einen Schritt und bin schon bei ihr und spüre ihren Atem. Ich ziehe an ihr, sie kippt gegen mich. Ihr schmaler Körper seltsam fest. Ich umarme die ganze Welt. Der Geruch nach Lagerfeuer. Die Wärme an ihrem Hals. Ihr Kiefer an meinem. Ich finde zunächst ihre Lippen nicht. Aber dann wird es weich und warm, und sie öffnet ihren Mund, und ich spüre für einen winzigen Flügelschlag ihre Zunge, dann ist alles vorbei, und wir stehen uns wieder gegenüber.
Ich muss schlafen, sagt sie und blickt mich an. In diesen dunklen Augen plötzlich eine Wehrlosigkeit. Sie atmet aus. Ich ziehe sie wieder an mich. Ich spüre, wie sie sich versteift. Sie drückt ihr Gesicht an meinen Hals. Ich muss schlafen, sagt sie. Ich drücke fester. Sie wird weich. Ich streichle ihren Kopf. Sie atmet wieder aus. Ich muss, sagt sie. Ich lasse sie los. Sie macht einen Schritt in die Wohnung zurück. Und schiebt mit ihrem Fuß meinen vom Türrahmen.
Schlaf gut, sagt sie und schließt die Tür, und ich stehe in einem leeren und dunklen Treppenhaus.
27 Der Morgen zeigt seine grelle Seite. Die Detonationen hängen noch in den Kreuzungen, die Sonne lässt den Dampf über dem Eschholzpark glitzern. Die Fußgängerampel in der Eschholzstraße winkt mich gelb blinkend durch. Ich denke nichts. Es ist ein anderer, der durch die leeren Straßen geht. Zu Hause falle ich ins Bett wie in einen Weiher, sinke bis zum schwarzen Grund. Ich erwache am späten Nachmittag, draußen ist es schon dunkel. Ich setze mich in den Sessel,
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