Wir zwei sind Du und Ich
herrscht der Dicke Ri barsch und mit gefährlich blitzenden Augen an.
Ri zuckt zusammen. Für einen Moment hatte sie ganz vergessen, dass sie ja noch hier steht.
„Weißt du, wem das Auto gehört?“, nimmt sie allen Mut zusammen und zeigt auf den roten Passat.
„Warum willste das denn wissen?“, knurrt der bullige Kerl zurück.
Sicherheitshalber macht Ri einen Schritt zurück.
„Ich suche einen Freund. Ben heißt er. Schwarze, wilde Haare und blaue Augen. Ist er vielleicht da drin?“
Der Türsteher guckt Ri durchdringend an. Er ist fast doppelt so groß und mindestens dreimal so breit wie sie.
„Keene Ahnung!“ Offensichtlich genießt er sein kleines Spiel mit Ri.
Hoffnungslos, denkt sie, aus dem Kerl krieg ich nix raus.
Laut sagt sie: „Wenn er vielleicht doch da drin ist, dann sag ihm doch bitte ...“ Ri stockt. Was soll er Ben eigentlich sagen?
„Ach, vergiss es!“, murmelt sie und kehrt zurück zum Auto.
Der Türsteher sieht ihr nach, schüttelt den Kopf und schließt die schwere Eisentür, die laut scheppernd ins Schloss fällt.
Irgendwann muss Ben ja zu seinem Auto zurückkommen, denkt Ri.
Sie wartet und wartet, aber die Zeit vergeht einfach nicht. Immer wieder schaut sie auf ihrem Handy nach der Zeit. Elf entgangene Anrufe – alle von ihren Eltern.
Das habt ihr jetzt davon, denkt Ri trotzig und traurig zugleich.
Es wird immer kälter. Sie hüpft auf und ab und läuft umher, aber die Kälte sitzt tief in ihr, die Müdigkeit auch. Und mit jeder vergangenen Minute wächst die Hoffnungslosigkeit. Vielleicht ist Ben ja gar nicht im Club? Was, wenn er erst in einer Woche sein Auto abholt? Was, wenn es gar nicht sein Auto ist? Und was, wenn er Ri gar nicht wiedersehen will? Warum hat er sich nie gemeldet?
Ri lässt den Eingang zum „Romeo“ nicht aus den Augen. Gerade ist wieder ein Trupp junger Typen darin verschwunden. Sie sehen alle gleich aus: Verdammt gut. Hübsch. Mit hippen Klamotten. Wenn der Türsteher auf der Bildfläche erscheint, schielt er argwöhnisch zu Ri hinüber, die seinem Blick tapfer standhält. Aus der Entfernung fühlt sie sich sicherer.
Inzwischen muss es schon ganz schön voll sein im Club, denkt Ri. Ständig verschwinden tuschelnde Pärchen und laut herumalbernde Grüppchen darin, aber niemand kommt heraus.
Schon Mitternacht, jetzt wartet sie schon seit fast vier Stunden! Vor lauter Kälte spürt sie ihre Füße nicht mehr.
Plötzlich rollt ein dicker, schwarzer Mercedes fast lautlos auf den Parkplatz und hält direkt neben Ri, sodass ihr Herz in die Hosentasche rutscht.
Hinter der langsam herabsinkenden Autoscheibe erscheint ein Anzugtyp wie ihr Vater: Halbglatze, grau und abstoßend. Wahrscheinlich hat er Mundgeruch, denkt Ri.
„Willst du nicht einsteigen, Kleines?“
Die säuselnde Stimme des Alten bereitet Ri eine Gänsehaut.
„Nee“, sagt sie und schaut zum Romeo. Ausgerechnet jetzt ist keiner da.
„Na komm schon Kleines“, sagt der Mann jetzt mit Nachdruck in der Stimme. „Ich zahl auch gut.“
Ri überlegt nicht lange. Sie rennt mitten durchs weiße Gebüsch. Dornen zerkratzen ihr Gesicht. Aber das ist ihr egal. Sie rennt so schnell sie kann, immer weiter. Als sie völlig erschöpft an einer stark befahrenen und hell erleuchteten Straße ankommt, läuft sie langsamer. Sie dreht sich um, aber niemand folgt ihr. Auch das dicke, schwarze Auto ist nicht in Sicht. Ihr Blut rauscht wie ein Wildwasserstrom durch sie hindurch.
Als sie erschöpft an der Spree innehält, weiß sie plötzlich, wo sie hin will: zur Insel!
Die Insel
Seit Jahren ist sie nicht mehr dort gewesen. Ohne Ben und ohne Jakob ist die Insel zu einem traurigen Ort geworden. Jetzt sucht sie die Stelle, wo sie sich durch das Gebüsch zwängen muss und findet sie auf Anhieb. Die Sträucher sind in den letzten sechs Jahren ziemlich gewachsen. Aber Ri glücklicherweise auch.
Geschickt schlängelt sie sich durch die Dornen. Dabei schüttelt sie die Schneedecke auf, sodass es für einen Augenblick nur um Ri herum ein klein wenig schneit. Wie Dornröschen im Winter, denkt sie.
Bald steht Ri am Spreeufer mitten auf der Insel. Hier ist die Zeit stehengeblieben. Es sieht genauso aus wie in ihrer Erinnerung. Eine kleine, sandige Bucht, von der aus man auf die Oberbaumbrücke sehen kann. Das Wasser macht leise müde Bewegungen.
Ri setzt sich trotz der Kälte auf den gefrorenen Boden. Sie ist zu erschöpft, um noch länger zu stehen. Sie versucht, sich warme Gedanken zu machen. So wie
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