Wir zwei sind Du und Ich
berührt. Dann malten sie sich diese Welt aus: voller Wiesen und weicher Böden, damit man sich nicht wehtut, wenn man hinfällt. Außerdem gibt es dort viele kleine Hügel, von denen man sich herunterkugeln lassen kann, bis einem schwindelig wird. Man muss keine Angst vor Glasscherben oder Hundehaufen haben. In dieser Welt gibt es nichts, wovor man Angst haben muss oder über das man sich ärgern kann.
Kurz hält Ri nach dieser einen Fliese Ausschau, dann muss sie über sich selbst und ihre Naivität lachen.
Sie steigt in die U8 Richtung Hermannstraße. Inzwischen ist es schon früher Nachmittag. Schulkinder belagern die U-Bahnwagen, füllen sie mit ihrem Lachen und lauten Neckereien. Sie schubsen sich und rempeln dabei andere Passanten an, die mürrisch schauen. Wie oft ist Ri hier mit Ben entlang gefahren?
Am U-Bahnhof Schönleinstraße hüpft Ri aus der U-Bahn, während der Wagen noch ein wenig rollt. Das mag sie am liebsten. Als sie die Treppen zur Straße emporsteigt und die ersten Häuser erspäht, fühlt sie sich plötzlich seltsam vertraut mit den Plätzen, Gerüchen und Menschen hier.
Ri schaut sich um. Sie holt tief Luft, als könne sie so die Atmosphäre in sich aufsaugen. Das muss das Gefühl von Heimat sein, denkt sie. Warum war sie so lange nicht hier gewesen?
Die alten Gewohnheiten lassen sie die bekannten Wege gehen. Kleine Schritte durch den Schnee. Als sie in der Böckhstraße vor dem grauen Haus steht, in dem Ben mit Lola gewohnt hatte, wird ihr ganz mulmig zumute. Wo soll sie jetzt suchen? Vielleicht wohnt ja noch die Nachbarin dort, bei der Ben damals nach Lolas Tod untergekommen war. Aber wie hieß sie noch gleich? Ri ärgert sich über sich selbst. Warum konnte sie sich bloß keine Namen merken?
Dann steht Ri in dem schmutzig grauen Hausflur, der noch genauso aussieht wie in ihrer Kindheit. Nur das Gefühl ist ein anderes. Früher war sie so gerne hier gewesen. Die Vorfreude auf Ben und Lola war immer riesig. Wenn sie mit ihren kleinen Füßen die Treppen in den dritten Stock hochstieg, hatte sie so ein kribbeliges Gefühl im Bauch. Wie beim Schaukeln, wenn man von ganz oben wieder zu Boden saust. Die Wohnung erwartete Ri stets mit ihrer Gemütlichkeit, dem Duft nach Vanille und den leckeren Köstlichkeiten, die Lola in der Küche zubereitete. Ganz zu schweigen von ihrer Herzlichkeit, ihrer Wärme.
Jetzt fühlt Ri nur die große Leere in sich, Traurigkeit. Aufmerksam liest sie die Namen auf den Klingelschildern: Schreiber, Konnopke, Akyüz, Konrad, Abdallah, Peters&Küster, Bretoni, Rhabaran. Keiner der Namen kommt ihr im Entferntesten bekannt vor. Wäre auch komisch, denkt Ri, in einer Stadt, in der die Menschen ständig umziehen – auf der Suche nach dem perfekten Platz.
Enttäuscht macht sich Ri auf den Weg zu ihrer alten Wohnung zwei Straßen weiter. Sie überlegt, wie oft sie hier wohl mit Ben entlanggelaufen ist. Manche Häuser kommen ihr so vor, als würden sie ihr zulachen, wie alte Bekannte. Andere sind ihr fremd. Sie kann sich nicht an sie erinnern.
Es dämmert schon. Ri tun die Füße weh. Die Kälte und die Hoffnungslosigkeit rauben ihr die Kraft. Sie ist müde. Wie gerne würde sie jetzt in ihrem warmen Bett liegen, heiße Suppe schlürfen und sich anschließend von Leos Stimme in den Schlaf säuseln lassen.
Aber ich habe kein Zuhause mehr, erinnert sie sich. Nie wieder kann ich dorthin zurückkehren. Zu Eltern, die mich nicht lieben, zu Eltern, die mich in die Schweiz in ein Internat stecken wollen!
Mit diesen Gedanken steht sie plötzlich vor dem Haus mit der großen, blauen Tür – dem Haus ihrer Kindheit. In der Dunkelheit erscheint es richtig gruselig. Die erleuchteten Fenster sehen aus wie die Augenhöhlen von Totenköpfen. Ri schaudert.
Vorsichtig drückt sie die große, schwere blaue Tür auf und späht in den schwarzen Hinterhof, der sich vor ihr auftut. Sie muss an ihren Traum denken – die Stimme ihres Vaters, das Gefühl verfolgt zu werden, der Sturz und der stille Schrei, den sie vergeblich ausstößt.
Lange bleibt sie so stehen. Eine kleine Ewigkeit. Ri zögert und kehrt schließlich um. Sie schafft es nicht hineinzugehen. Bilder von Jakob drängen sich in ihr Bewusstsein. Sie läuft, rennt – einfach so – schneller und schneller. Bis sie total erschöpft und außer Atem am Hermannplatz ankommt. Was soll sie jetzt nur machen? Wo soll sie heute Nacht schlafen? Sie kann die Tränen nicht zurückhalten. Sie laufen einfach aus ihr heraus. Der Schmerz
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