Wir zwei sind Du und Ich
dir.“
„Ich wollte nie erwachsen werden“, sagt Ri. „aus Angst ich könnte dann unsere Kindheit verraten. Das Schönste in meinem Leben.“
Ben drückt Ri einen Kuss auf die Stirn. Einen Moment schauen sie sich leise an. Dann steht Ben auf.
„Ich geh uns schnell Schrippen holen. Wenn du magst, kannst du ja ein heißes Bad nehmen, und wenn du fertig bist, wartet schon ein gutes Frühstück auf dich.“
Ri streckt sich.
Von der Badewanne aus kann Ri direkt auf den Kirchturm schauen. Sie versinkt im heißen Wasser, eingehüllt in weichen Seifenschaum. Warum kann nicht das ganze verdammte Leben so wie dieser eine Moment sein?
Langsam lässt sie sich einsinken, bis auch ihr Kopf unter Wasser ist. Sie genießt die Stille unter Wasser, als könne sie so diesen Moment bewahren.
Da klopft es an die Badezimmertür. „Ri?“, hört sie Bens Stimme.
„Ja?“
„Frühstück ist fertig.“
„Ich komme gleich“, ruft sie und steigt aus dem Wasser. Sie hasst den Augenblick, wenn es plötzlich wieder kalt wird. Bibbernd schlüpft sie in den dunkelblauen Bademantel, der an der Tür hängt.
Sie schaut in den Spiegel – bleich und mit dunklen Augenringen. Ohne Schminke sieht sie noch jünger aus. Eilig huscht sie in die Küche.
Der Duft nach frischen Croissants steigt Ri in die Nase. „Hmm, das riecht vielleicht lecker!“ Auf dem kleinen, runden Küchentisch warten frische Brötchen, Honig, Käse, Obst und heißer Kaffee auf sie. Ben zieht gerade ein Blech warmer, dampfender Croissants aus dem Ofen.
Während sich Ri gierig auf die warmen Croissants stürzt und hastig ihren Kaffee trinkt, betrachtet Ben sie nachdenklich.
„Sag mal Prinzessin, bist du sonst auch die ganze Nacht unterwegs? Machen sich deine Eltern keine Sorgen?“
Ri legt das angebissene Croissant auf den blauen Teller mit dem Goldrand, der vor ihr steht. Plötzlich hat sie gar keinen Hunger mehr.
„Heute ist doch Samstag, da hab ich keine Schule“, weicht sie aus.
„Das ist jetzt aber keine Antwort!“
Ben bemerkt Ris bedrückten Blick. „Was ist denn los?“
Und weil Ben keine Ruhe gibt, erzählt Ri von den Problemen in der Schule, vom Druck ihres Vaters, vom Streit, dem Schweizer Internat und ihrer Entscheidung, kein Zuhause mehr zu haben.
Gerade als Ri mit ihrer Geschichte fertig ist, kommt Micha verschlafen, nur mit Shorts bekleidet, in die Küche geschlurft. Seine weiße Haut ist fast durchsichtig und er ist so dünn, dass seine Hüftknochen wie spitze Eisberge hervortreten.
„Morgen!“, murmelt er, gießt sich eine Tasse Kaffee ein, lehnt sich an die Spüle und blickt Ri neugierig an.
„Micha, das ist Ri“, sagt Ben nicht ohne Stolz.
„Die berüchtigte Ri?“, fragt Micha.
Ri lächelt ihn vorsichtig an. Micha sieht mit seinen strahlend blauen Augen und den honigblonden, strubbeligen Haaren so verdammt gut aus, dass sich Ri dagegen ungeschminkt, mit nassen Haaren und dem dicken Frotteemantel, wie eine graue hässliche Kröte vorkommt.
„Ich hab sie tatsächlich endlich gefunden! Oder sie mich. Ich weiß nicht so genau“, meint Ben.
„Hauptsache ihr habt euch gefunden.“
Micha ist eindeutig schwul und Ri mag ihn sofort.
Dank seines Auftauchens sitzen die drei an diesem Samstagmorgen stundenlang gemütlich am Frühstückstisch und Ris derzeitiger Kummer verschwindet aus ihren Gedanken. Ri und Ben erzählen Micha von ihrer Kindheit, von Lola, ihren Abenteuern und Lieblingsplätzen. Zusammen erinnern sie sich plötzlich an Dinge, die sie glaubten längst vergessen zu haben.
„Und Istanbul?“, fragt Ri irgendwann. „Du hast noch gar nicht von Istanbul erzählt.“
„Genau!“, stimmt Micha zu. „Mir hat er nämlich auch noch nichts von seinen orientalischen Nächten erzählt.“
Ben zieht die Augenbrauen nach oben und seufzt. „Schrecklich war’s! Mein Vater hat den ganzen Tag als Kellner in einem Restaurant gearbeitet. Wenn er spätabends nach Hause kam, hat er sich vor den Fernseher gesetzt und einen Raki nach dem anderen getrunken, bis er so betrunken war, dass er nur noch ins Bett wanken konnte. Mein Türkisch war am Anfang so schlecht wie sein Deutsch, sodass wir kaum miteinander redeten. Eigentlich haben wir auch später nicht viel geredet. Wir hatten uns einfach nichts zu sagen. Er schämte sich für mich, weil ich so deutsch war.“
Ben hält kurz inne. Sein Blick schweift in die Ferne.
„Und die Schule?“, fragt Micha. „Hattest du keine Freunde?“
„Doch ein paar“, antwortet Ben. „Aber
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