Wirbelsturm
Stromausfalls finster. Aber im Südosten erhellte ein roter Schein den Himmel. »Wieder in Jaleh«, stellte er lakonisch fest.
Fünf Monate zuvor, am 8. September, waren Zehntausende von Menschen in Teheran auf die Straßen gegangen, um gegen das vom Schah verhängte Standrecht zu demonstrieren. Es kam zu ausgedehnten Zerstörungen, vor allem in Jaleh, einem armen, dicht bevölkerten Vorort, wo Freudenfeuer angezündet und Barrikaden aus brennenden Autoreifen errichtet wurden. Als die Sicherheitskräfte eintrafen, weigerte sich die Menge auseinanderzugehen.
Es kam zu heftigen Zusammenstößen. Als Tränengas nichts nützte, ließ die Polizei die Gewehre sprechen. Die geschätzte Zahl der Toten schwankte zwischen offiziellen Angaben über 97 bis 250 und den Aussagen militanter oppositioneller Gruppen, die von 2.000 bis 3.000 Opfern sprachen.
Bei dem darauffolgenden scharfen Durchgreifen, dem sogenannten Blutigen Freitag, wurde eine große Zahl von oppositionellen Politikern, Dissidenten und Regimegegnern verhaftet und eingesperrt – die Regierung gab später zu, daß es 1.106 Personen gewesen waren –, darunter zwei Ayatollahs, was die Massen noch mehr aufbrachte.
Pettikin beobachtete niedergeschlagen den Feuerschein. Ohne die Ayatollahs, dachte er, vor allem ohne Khomeini, wäre das alles nicht geschehen. Als McIver vor Jahren in den Iran gekommen war, hatte er einen Freund von der Britischen Botschaft gefragt, was das Wort Ayatollah bedeutet. »Es ist ein arabisches Wort, ayat' Allah, und bedeutet ›Spiegelung Gottes‹.«
»Also Priester?«
»Keineswegs. Im Islam gibt es keine Priester. Der Name ihrer Religion ist ebenfalls ein arabisches Wort, es bedeutet ›Unterwerfung‹: Unterwerfung unter den Willen Gottes.«
»Was?«
»Ich erkläre es dir«, hatte sein Freund lachend gesagt, »aber du mußt ein bißchen Geduld haben. Zunächst sind die Iraner keiner Araber, sondern Arier, und die große Mehrheit sind schiitische Moslems, eine aktive, manchmal mystische Splittersekte, während die Araber hauptsächlich orthodoxe Sunniten sind, die den größten Teil der Milliarden Moslems auf der Welt bilden. Die beiden Sekten kann man mit unseren Protestanten und Katholiken vergleichen, und sie haben einander auch genauso erbittert bekämpft. Allen aber ist der Glaube gemeinsam, daß es nur einen Gott gibt – Allah, das arabische Wort für Gott –, daß Mohammed, ein Mann aus Mekka, der von 570 bis 632 gelebt hat, sein Prophet war, und daß die Worte des Korans, die er verkündet hat und die von anderen nach seinem Tod im Lauf vieler Jahre niedergeschrieben wurden, direkt von Gott kommen und alle Anweisungen enthalten, die ein einzelner oder die Gesellschaft braucht und nach denen sie sich richten müssen.«
»Alles? Das ist unmöglich.«
»Für die Moslems ist es möglich, heute, morgen, für ewige Zeiten. Aber ›Ayatollah‹ ist ein Titel, den es nur bei den Schiiten gibt und der einem Mullah verliehen wird, wenn die Gemeinschaft in einer Moschee ihn öffentlich dazu ausruft. Der Mann muß bestimmte Eigenschaften besitzen, die bei den Schiiten hoch in Ansehen stehen und die sie besonders bewundern: Frömmigkeit, Armut, Belesenheit – aber nur im Hinblick auf die heiligen Bücher, den Koran und die Sunna – und Führungsqualitäten, vor allem Führungsqualitäten. Im Islam gibt es keine Trennung zwischen Religion und Politik, es kann sie nicht gehen, und die schiitischen Mullahs des Iran waren schon immer fanatische Hüter des Korans und der Sunna, fanatische Führer und, wenn nötig, kämpferische Revolutionäre.«
»Wenn ein Ayatollah oder Mullah kein Priester ist, was ist er dann?«
»Mullah bedeutet ›Führer‹, das ist der, der in der Moschee als Vorbeter die Gläubigen ›anführt‹. Jeder kann Mullah sein, vorausgesetzt, er ist männlichen Geschlechts und Mohammedaner. Im Islam gibt es keinen Klerus, der zwischen den Gläubigen und Gott steht, doch die Schiiten vertreten eine abweichende Auffassung: Sie glauben, daß nach dem Propheten die Erde von einem charismatischen, gottähnlichen, unfehlbaren Führer regiert werden sollte, dem Imam, der als Mittler zwischen den Menschen und Gott fungiert. Dadurch kam es zur großen Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten. Wo die Sunniten an einen direkten Konsens glauben, akzeptieren die Schiiten die Autorität eines Imam.«
»Und wer bestimmt den Imam?«
»Darin liegt ja das Problem. Als Mohammed starb, hinterließ er weder Söhne noch einen von
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