Wirbelsturm
Nogger Lane die 206 kapern.«
Er sah sie fragend an. »Und die Wachen?«
»Eines der Kinder hat mir erzählt, daß sie heute nach Täbris zurückgekehrt sind.«
»Bist du sicher?«
»Sicher bin ich nicht. Aber das Kind hat keinen Grund, mich anzulügen. Vor meiner Heirat habe ich hier unterrichtet, und ich weiß, die Kinder mochten mich gern. Das Mädchen sagte, es wären nur ein oder zwei Mann zurückgeblieben.« So viele Lügen, dachte sie, so viele Probleme in diesen letzten Wochen. Sind es nur Wochen? Soviel Schrecken und Entsetzen, seitdem Rákóczy und der Mullah nach der Sauna über Erikki und mich hergefallen sind. So hoffnungslos ist jetzt alles. Wo bist du, Erikki? hätte sie schreien mögen. Wo bist du?
Ross aß die Suppe auf und dann den Reis und versuchte sich einen Plan auszudenken. Sie kniete ihm gegenüber und betrachtete sein verfilztes Haar, seine Erschöpfung und seine ernste Miene. »Armer Johnny«, murmelte sie, »ich habe dir nicht viel Glück gebracht, stimmt's?«
»Unsinn. Das alles ist nicht deine Schuld.« Er schüttelte den Kopf. »Hör zu: Ich werde dir sagen, was wir tun. Wir bleiben noch über Nacht hier, aber morgen, beim ersten Hahnenschrei, gehen wir los. Wir versuchen es mit dem Stützpunkt – wenn es nicht klappt, machen wir zu Fuß weiter. Versuch den Dorfältesten dazu zu bringen, daß er den Mund hält, und seine Frau auch. Die anderen Dorfbewohner werden das tun, was er ihnen befiehlt. Versprich ihnen eine große Belohnung, und da …« Er langte in seinen Tornister und fand die zehn Goldrupien. »Gib ihm fünf, behalt die anderen fünf für einen Notfall.«
»Aber … aber was ist mit dir?«
»Ich habe noch zehn«, antwortete er. Die Lüge fiel ihm leicht. »Eine kleine Aufmerksamkeit Ihrer britischen Majestät.«
»O Johnny, ich glaube, jetzt haben wir eine echte Chance – das ist soviel Geld für die Leute!«
Ein Windstoß griff nach der Sackleinwand, die das Fenster ersetzte. Azadeh stand auf, um sie, so gut es ging, zurechtzuziehen.
»Laß nur«, sagte er, »komm, setz dich zu mir.« Sie gehorchte. »Hier. Für den Fall eines Falles.« Er übergab ihr die Handgranate. »Einfach den Sicherheitsstift herausziehen, den Bügel festhalten, bis vier zählen und werfen. Bis vier, nicht bis fünf!«
Sie nickte, zog den Tschador hoch und steckte die Handgranate vorsichtig in eine Tasche ihres Anoraks. »Danke. Jetzt fühle ich mich wohler. Sicherer.« Sie lächelte. »Ich … ich sollte jetzt gehen. Morgen bei Tagesanbruch bringe ich dir etwas zu essen, dann machen wir uns auf den Weg.«
Er stand auf und öffnete ihr die Tür. Draußen war es dunkel. Keiner sah die Gestalt, die vom Fenster weghuschte, aber beide spürten die Augen, die sie von allen Seiten beobachteten.
»Was ist mit Gueng, Johnny? Glaubst du, er wird uns finden?«
»Wo immer er auch sein mag, er wird nach uns Ausschau halten. Gute Nacht, träum schön.«
»Träum schön.«
Das war früher immer ihr Gute-Nacht-Wunsch gewesen. Ihre Blicke trafen sich, ihre Herzen berührten sich. Sie wandte sich ab, und der dunkle Tschador machte sie fast unsichtbar. Er sah, wie sich die Tür des Dorfältesten öffnete, wie sie hineinging und die Tür hinter sich schloß. Wieder packte ihn ein Krampf, und diesmal mußte er sich hinhocken. Es schmerzte stark, aber das Ergebnis war dürftig. Er war froh, daß Azadeh gegangen war. Mit seiner linken Hand tastete er nach etwas Schnee, um sich zu säubern. Immer noch fühlte er sich von allen Seiten beobachtet. Saukerle, dachte er, kehrte in die Hütte zurück und setzte sich auf die derbe Strohmatte.
Im Palast des Khans: 23 Uhr 19. Der Arzt hielt das Handgelenk des Khans und fühlte ihm noch einmal den Puls. »Sie brauchen viel Ruhe, Hoheit«, sagte er besorgt, »und nehmen Sie alle drei Stunden eine von diesen Pillen.«
»Alle drei Stunden … ja«, murmelte Abdullah Khan. Er atmete schwer. Er lag auf Kissen gestützt in seinem Bett aus weichen Teppichen. Neben dem Bett standen Najoud, mit 35 Jahren seine älteste Tochter, und die 17jährige Ayscha, seine dritte Frau. Zwei Wächter waren an der Tür postiert, und Ahmed kniete neben dem Arzt. »Gehen Sie jetzt.«
»Morgen früh komme ich wieder – mit dem Krankenwagen und …«
»Kein Krankenwagen. Ich bleibe hier.« Das Gesicht des Khans rötete sich, wieder durchbohrte ein wilder Schmerz seine Brust. Alle im Raum beobachteten ihn und wagten kaum zu atmen. »Ich bleibe … da«, stieß er hervor, als er
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