Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Durchführung des umfassenderen Projektes ihrer professionellen Fachgenossen erforderlich sind. In Großbritannien gibt es heute eine Million Vogelbeobachter, die zum jährlich erhobenen Garten-Zensus beitragen. Auf solchen Gebieten können spezialisierte Amateure tatsächlich zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen beitragen oder ihre eigenen, »nichtprofessionellen« Zeitschriften mitgestalten. Vielleicht erinnern sie die professionellen Wissensarbeiter weiterhin an die Gefahren der Entfremdung. In den Geistes- und Sozialwissenschaften war die Situation jedoch eine andere. In den Anfangsjahren der Sozialforschung steuerten Amateure viele der Fallbeschreibungen bei, auf deren Grundlage die Fächer dieses Gebietes aufgebaut wurden. Im Laufe der Zeit jedoch entwickelte sich auch das Datensammeln zu einem Bereich, der den professionellen Wissenschaftlern vorbehalten blieb.
Mir scheint also, daß wir professionellen Wissenschaftler etwas sehr Wichtiges lernen können, indem wir in demokratischerer Form über das Wissen nachdenken. Dazu ist es nicht nötig, über das Wissen abzustimmen. Aber wir müssen ein offeneres und toleranteres Verhältnis zu den Amateuren herstellen, aus denen sich unsere engsten Verbündeten und unser größtes potentielles Publikum rekrutieren. Dazu müssen wir das verhedderte Begriffsknäuel aufdröseln, das wir benutzt haben, um die Schranken des Professionalismus zu errichten. Früher wurde oft behauptet, der Fachjargon sei der Kern dieses Knäuels mit seinen albernen Fachausdrücken, unnötig komplexen Modellen und kindisch scharfzüngigen Polemiken. Dagegen möchte ich geltend machen, daß Wissensentfremdung womöglich ein gefährlicheres Resultat ist. Unsere Isolation hat zu einem gewissen Mangel an Authentizität im Kern unseres Denkens geführt. Vielleicht können unsere Freunde – die Amateure – diese Krankheit heilen.
Aus dem Englischen von Joachim Schulte
Bruno Latour
Warten auf Gaia
Komposition der gemeinsamen Welt
durch Kunst und Politik *
Was sollen wir tun, wenn wir uns mit einer ökologischen Krise konfrontiert sehen, die keiner der bisher bekannten kriegsbedingten oder wirtschaftlichen Krisen ähnelt, deren Ausmaße zwar beeindruckend sein mögen, doch an die wir in einem gewissen Sinne gewöhnt sind, da sie menschlich-allzu-menschlichen Ursprungs ist? Was soll man tun, wenn Tag für Tag in immer schrilleren Tönen verkündet wird, unsere heutige Zivilisation sei zum Untergang verurteilt? An der Erde selbst sei dermaßen herumgepfuscht worden, daß es keinen Weg gibt, auf dem sie je zu einem ihrer früheren stabilen Zustände zurückkehren könnte. Was kann man tun, wenn man beispielsweise ein Buch wie jenes von Clive Hamilton liest, das den Titel trägt Requiem for a Species: Why We Resist the Truth About Climate Change , und die gemeinte Spezies nicht etwa der Dodo oder der Wal ist, sondern wir , also Sie und ich? 1 Oder ein Buch wie Harald Welzers Klimakriege: Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird 2 – ein Buch, das hübsch in drei Teile gegliedert ist: Wie wurde gestern getötet, wie wird heute getötet, und wie wird man morgen töten. In jedem Kapitel muß man, um die Toten zu verbuchen, seinem Rechner mehrere Größenordnungen hinzufügen.
Ich weiß schon, die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei, und es könnte lächerlich wirken, wollte man eine so enorme Fragestellung von einem dermaßen engen Zugangspunkt aus angehen. Doch das ist genau der Grund, warum ich so verfahren möchte. Was soll man tun, wenn die Fragen für jeden zu groß sind, insbesondere wenn sie für den Autor – also mich selbst – viel zu groß sind?
Einer der Gründe, warum wir uns so ohnmächtig fühlen, wenn wir dazu aufgefordert werden, uns wegen der Umweltkrise Sorgen zu machen – der Grund, warum ich zumindest mich so ohnmächtig fühle –, ist die unüberbrückbare Kluft zwischen der Reichweite, der Natur und dem Maßstab dieser Phänomene sowie den Emotionen, Denkgewohnheiten und Empfindungen, die nötig wären, um mit diesen Krisen zurechtzukommen – womit nicht einmal gemeint ist, daß wir handelnd auf sie reagieren, sondern bloß, daß wir ihnen mehr als nur ganz oberflächliche Aufmerksamkeit schenken. Im vorliegenden Essay wird es daher hauptsächlich um diese Kluft gehen und um die Frage, wie man ihr beikommen kann.
Gibt es eine Möglichkeit, den Abstand zwischen dem Maßstab der geschilderten Phänomene und der winzigen Umwelt [deutsch im Original;
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