Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
uns sozusagen durch ihr »Zittern und Beben« vernichtet. Letztlich ist sie also zu zerbrechlich und unbesorgt um unser Schicksal, um die beruhigende Rolle der alten Mutter Natur zu spielen, und zu unfähig, sich durch Angebote und Opfer günstig stimmen zu lassen, um als Göttin aufzutreten.
Erinnert sich noch jemand an den ganzen Aufwand, der von einer Unzahl von Wissenschaftlern getrieben wurde, um den Unterschied zwischen Natur und Erziehung – zwischen nature und nurture – zu tilgen? Was geschieht nun, wenn wir uns der »Natur« zuwenden und merken, daß wir es sind, die sie so »erziehen« sollten, daß wir durch die plötzliche Veränderung ihres stationären Zustandes nicht bis zur Belanglosigkeit aufgerieben werden? Sie wird bleiben. Um sie brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Wir sind es, denen Ärger droht. Anders gesagt: Bei diesem rätselhaften Anthropozän kommt so etwas wie ein Möbiusband ins Spiel, so als hätten wir Gaia im Griff – da wir sie bedrohen können –, während sie zur gleichen Zeit uns im Griff hat – da wir nirgendwo anders hinkönnen. Wirklich eine Gauklerin, diese Gaia.
In diesem Essay kann ich zwar nicht alle Merkmale durchgehen, die für Gaias Originalität verantwortlich sind, aber dennoch muß ich abschließend zwei weitere Eigenschaften nennen. Das dritte und wahrscheinlich wichtigste Merkmal ist dies: »Gaia« ist ein wissenschaftlicher Begriff. Dieser Begriff wäre völlig uninteressant, wenn man ihn mit einem vagen, mystischen Wesen in Verbindung brächte wie Aywa, der Netz-Gaia des Planeten Pandora in James Camerons Film Avatar . Lovelock ist zwar ein schon seit langem heterodoxer Wissenschaftler, der weitgehend an seiner Außenseiterrolle festhält, aber der wirklich interessante Aspekt des von ihm aus lauter Stücken und Einzelteilen zusammengesetzten Begriffs liegt darin, daß er eben wirklich aus lauter Stücken und Einzelteilen zusammengesetzt ist . Wenn man vom Namen absieht, der Lovelock von William Golding vorgeschlagen wurde, stammen die meisten dieser Einzelteile aus naturwissenschaftlichen Fächern. Wollte man einen Begriff entwickeln, der nicht hauptsächlich wissenschaftlichen Gehalt hat, so wäre das Zeitverschwendung, denn unsere Epoche verlangt, dem Anthropozän auf Wegen nachzuspüren, die durch seinen hybriden Charakter vorgeschrieben sind. Was man unter Spiritualität versteht, ist durch falsche Vorstellungen von der Wissenschaft zu sehr geschwächt worden, um irgendeine Alternative zu bieten. So gesehen ist das Übernatürliche viel schlimmer als das Natürliche, von dem es herstammt. Trotz des Namens spielt Gaia also, soweit wir es der vergleichenden Religionswissenschaft entnehmen können, nicht wirklich die ältere Rolle einer Göttin. Soweit ich mir ein Bild davon machen kann, ist Gaia, wie auch das bekannte Modell »Daisyworld« * zeigt, nichts weiter als eine Menge kontingenter, positiver und negativer kybernetischer Schleifen. Wie es der Zufall will, ziehen diese Schleifen die völlig unerwartete Wirkung nach sich, daß sie – eine nach der anderen – die Bedingungen für neue positive und negative Schleifen von immer verschlungenerer Komplexität schaffen. Im Rahmen einer solchen Argumentation ist für Teleologie oder Vorsehung kein Platz.
Natürlich sollten wir mit diesem Etikett vorsichtig umgehen: Wenn ich sage, Gaia sei ein »wissenschaftlicher« Begriff, verwende ich das Adjektiv nicht in dem epistemologischen Sinn eines Mittels zur Einführung eines scharfen und nachvollziehbaren Unterschiedes zwischen wahr und falsch, rational und irrational, natürlich und politisch. Ich gebrauche das Wort in dem neuen und gewissermaßen sehr viel älteren Sinn von »wissenschaftlich«, in dem es als kosmologischer (oder vielmehr kosmopolitischer ) Ausdruck fungiert, der nicht nur die Suche, sondern auch die Zähmung und Einbeziehung von neuen Entitäten bezeichnet, die ihren Platz im Kollektiv zusätzlich zu den menschlichen Entitäten zu finden versuchen – meistens indem sie diese letzteren verdrängen. Das Großartige an Lovelocks Gaia ist, daß sie reagiert, fühlt und uns abservieren könnte, ohne eine ontologische Einheit zu bilden. Sie ist kein Superorganismus, der mit einem einheitlichen Handlungsvermögen ausgestattet wäre.
Im Grunde ist es dieser völlige Mangel an Einheit, durch den Gaia in politischer Hinsicht interessant wird. Sie ist keine souveräne Macht, die über uns gebietet. Es steht in Einklang mit den Einsichten
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