Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
Vom Netzwerk:
habe. Ist komisch, so etwas über eine alte Frau zu sagen, wenn man überall schöne Frauen zu Tausenden sieht. Ich meine im Fernsehen und so, aber das ist auch was anderes. Das, was schön war an ihr, ist bestimmt auf keinem Foto zu sehen. Wie sie plötzlich irgendwo im Dorf auftauchte, aus dem Nichts, und wie sie einen angelächelt hat. Du kommst um eine Ecke, und da steht sie ganz unvermittelt und lächelt dich an. Manchmal habe ich sogar geglaubt, sie ist eine Art Geist. Ein guter Geist natürlich, aber ein Geist. Bis zuletzt ist sie immer wieder im Dorf aufgetaucht, aber ich habe sie in meinem ganzen Leben nie dabei gesehen, wie sie die Hole raufgekommen ist. Das muss ungeheuer beschwerlich gewesen sein. Und es wäre ein Wunder, wenn sie in ihrem Alter dabei nicht manches Mal hingefallen wäre. Besonders im Winter. Die Winter hier sind nicht zu unterschätzen. Aber wenn Sie aus Kanada kommen, sind Sie einiges gewohnt. Man hat ihr das Alter nicht angemerkt. Ich meine, sie war alt, natürlich, sie hatte ein altes Gesicht, aber sie hat sich nicht bewegt wie eine alte Frau. Ich hatte nie den Eindruck, als würde ihr Körper ihr Probleme bereiten oder sie am Rande ihrer Kräfte sein. Wenn wir Kohlen geschleppt haben oder Schnee geschippt, bin nur ich ins Schwitzen gekommen. Sie war langsam, natürlich, aber sie wurde nie müde. Deswegen hat mich das mit ihrem Tod auch richtig mitgenommen. Ich hab einfach nicht damit gerechnet. Im Dorf geht man auf jede Beerdigung, das gehört sich so, ob man trauert oder nicht. Aber bei der von Emma war ich so .... Und ich hab gedacht: Mensch, die Emma. Das gibt's doch nicht! Das kann doch gar nicht sein! Als ob sie eine junge Frau gewesen wäre und nicht über siebzig. Aber eins war komisch: Es ist praktisch niemand von außerhalb da gewesen. Keine Familie oder so. Es waren nur Schüllerianer und ein paar Wemlighäuser da. Und wir wussten alle, dass sie mit keinem von uns wirklich befreundet war. Sie ist all die Jahre eine Zugezogene geblieben. Eine traurige Sache. Nur ein Berleburger war da, ein alter Mann. Ich kannte ihn nicht, aber ich erinnere mich, wie meine Mutter gesagt hat, er würde seit ein paar Jahren schon in Bad Berleburg wohnen, also auch zugezogen. Ganz weiße Haare, sehr elegant. Ich habe ihn danach nicht mehr gesehen. Aber gelitten hat der, das ist sicher, auch wenn er sich sehr im Griff hatte. Wenigstens einer, hab ich noch gedacht. Wenigstens einer, der so richtig leidet. Mindestens das hat sie verdient. Der Mann schien Ihre Großtante gut gekannt zu haben. Ich habe daran gedacht, dass das Haus jetzt alleine in der Hole steht und verfällt, und dass es in ein paar Jahren niemanden mehr gibt, der sich daran erinnert, wie sie hier ihr Leben allein gelebt hat, und wie stark sie war und so weiter. Deshalb hab ich mich auch gefreut zu hören, dass es doch noch einen Erben gibt, der vorhat, hier einzuziehen. Also wie gesagt, ich kannte sie nicht richtig, im Grunde haben wir uns nur gegrüßt. Ich hab ihr manchmal geholfen, aber richtig unterhalten haben wir uns nicht dabei. Sie war wohl eher der schweigsame Typ. Scheint in der Familie zu liegen. Ich mach mich jetzt mal wieder an die Arbeit. Danke für den Kuchen. Ist auch mal lecker, so 'ne Torte. Dass Sie die selbst gebacken haben! Wenn Sie mal Lust auf ein Bier haben, dann kommen Sie doch einfach vorbei. Ich wohne oben, Bergesweg 7, in dem kleinen Haus mit dem braunen Fachwerk. Ist das einzige im Dorf mit braunem Fachwerk. Womit verdienen Sie eigentlich Ihr Geld? Und noch mal danke für den Kuchen. Ich heiße übrigens Anton.« Marco H. folgt ihm zur Tür und beobachtet, wie der schnauzbärtige Mann den kleinen Hamster-Hund begrüßt, als hätte er ihn seit Ewigkeiten nicht gesehen. Anton M. lässt das Tier noch ausgiebig an Marcos neuen Pantoffeln schnuppern, bevor die beiden gemeinsam die Treppen hinuntersteigen und mit präzis gesetzten Schritten auf dem Geröllweg verschwinden. Für Anton M. war Emma so etwas wie eine verschlossene Tür. Eine Tür, die zwar immer Teil eines Raumes ist, aber nicht nur, denn ihre Rückseite liegt woanders. Leider kommt man da, wo sich ihre Rückseite befindet, mangels Schlüssel nicht hin. Manchmal hat Anton M. den Eindruck, als gäbe es im Dorf sonst niemanden, der etwas von einer Tür hat. In einem Dorf wie diesem hält man sich aneinander fest, wie man sich überall aneinander festhält. In so einem Dorf findet man alles, was man sonst auch findet, wenn man von gut gemachten

Weitere Kostenlose Bücher