Wittgenstein
asiatischen Nudelsuppen einmal absieht.
Marco H. schließt die Tür und geht zurück in die Küche, um sich ein weiteres Stück Schwarzwälder Kirsch zu nehmen. Die Sahne und der dunkle Kuchenboden verschmelzen in seinem Mund zu einem süßen Brei, von dem er nicht genug kriegen kann. Dann geht er nach oben in den ersten Stock, der letztlich doch etwas vollgestellt wirkt. Er fängt mit den zahlreichen Schubladen an, öffnet eine nach der anderen und untersucht ihren Inhalt. Bei so etwas muss man systematisch vorgehen, sonst bleibt einem womöglich das Wichtigste verborgen. In einer der unteren Schubladen liegen Bilder ihrer Eltern, seiner Urgroßeltern. Menschen mit strengen, hageren Gesichtern, wie seines, wenn es von einer Linse aus jener Linsengeneration fotografiert werden würde. Auf einem weiteren Foto sind die drei Kinder zu sehen. Sie sitzen auf einer Wiese zwischen ein paar Apfelbäumen. Die ältere Schwester, seine Großmutter, hat ihre kleine Schwester Emma, noch ein Baby, auf dem Schoß. Der Bruder hockt daneben. Die drei sitzen gemeinsam zur selben Zeit am selben Ort, durch ihre Adern fließt das gleiche Blut, und sie werden von derselben Kamera eingefangen. Sie sehen einander sehr ähnlich. Weiße Wesen mit dunklen Augen in einer Welt aus Gras und Holz.
Leider findet er in der Schublade kein späteres Foto von ihr. Er lässt etwas Zeit vergehen und blickt sich in dem mit alten Möbeln vollgestellten Raum um. Die beiden Kinder toben lachend zwischen den Schränken und Stühlen herum, und ihre weiße Kleidung hebt sich von dem dunklen Holz besonders gut ab. Auf dem runden Tisch hat jemand die kleine Emma abgesetzt, und sie blickt Marco H. mit ihren großen dunklen Augen, deren endgültige Farbe noch nicht feststeht, unverwandt an. Auch sie lächelt, schiebt dann die Unterlippe vor, verzieht die Augenbrauen, sieht aus, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu weinen, und lächelt wieder. Seine Großmutter, des Rumlaufens müde, geht zu ihrer kleinen Schwester, hebt sie umständlich vom Tisch und trägt sie etwas unbeholfen aus dem Raum. Der Bruder folgt den Schwestern, dreht sich aber noch einmal zu ihm um, bevor auch er durch die Tür hinausgeht. Marco H. überlegt, wie viel Zeit dem Jungen von jetzt an noch bleibt, und kommt auf eine erschreckend kleine Zahl an Jahren. Er nimmt das Foto mit nach unten und hängt es an eine Wand im roten Zimmer. Vielleicht ist es richtig, mit diesem ersten Foto anzufangen. Er setzt sich auf das blaue Sofa, und von da aus betrachtet ist die Emma auf dem Foto nur ein kleiner Punkt in einem etwas größeren Punkt, den seine Großmutter bildet. Einen so kleinen Punkt hat er noch nie an eine Wand gehängt, geschweige denn beerbt. Vom Sofa aus einen so kleinen Punkt zu fixieren, fällt ihm nicht leicht.
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Zuerst ist die Nacht draußen vor dem Fenster, aber da hilft sie dir nicht, auf deinem hölzernen Stuhl an deinem hölzernen Tisch. Solange du in der Wohnung bleibst, bringt die Nacht keine Erleichterung. Um ihre Vorteile zu nutzen, musst du aufstehen und nach draußen gehen. Erst in deinem Wagen umschließt dich ihre schützende Kraft. Niemand kann dich sehen, ein paar Scheinwerfer, das Motorgeräusch. Du bist das laute Licht in der Nacht, das man erwartet, manchmal ersehnt. Ein Beruhigungsmittel, nicht mal ein starkes. Du bist der Beweis dafür, dass keine Nacht vollkommen ist, denn für jeden, der auf dem Weg nach Hause zwischen den Dörfern über die Nacht stolpert, bist du alles zusammen, der Tag, die Geschäfte und die Ärzte. Du bringst Licht in die Finsternis und ziehst dabei mit jedem einzelnen der Reflektoren am gleichen Strang.
Hinter dir ist es so ruhig, als wärest du nie da gewesen. Vor dir ist alles möglich, weil immer alles möglich ist. Auf dem Stück zwischen Wunderthausen und Diedenshausen hattest du einmal sogar einen Waschbären. Wie kommt ein Waschbär auf die L717? Leider war das der einzige, danach hattest du keinen mehr und hast auch nie von einem weiteren Exemplar in der Gegend gehört. Ansonsten Rotwild, Schwarzwild, Hunde, Katzen, alles. Irgendwann Leute.
So schnell wie eben grade ging es noch nie. Nicht mal damals bei dem Waschbären. Als der in deinem Lichtkegel auftauchte, konntest du wenigstens die Schwarz-Weiß-Zeichnung in seinem Gesicht erkennen. Du erinnerst dich noch, wie du »Ein Waschbär, das gibt's doch nicht!« gedacht hast. Aber jetzt weißt du nicht mal, ob es eine Frau oder ein Mann war. Längere, dunkle
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