Wittgenstein
Haare. Du nimmst eine Kurve und wärst fast dran vorbeigefahren. Das Sehen, die minimale Bewegung des Lenkrads und der Schlag sind fast eins. Mit so etwas hättest du nicht gerechnet, nicht heute Nacht. Die Male davor warst du darauf eingestellt, heute nicht. Nicht in einer Nacht, in der die Reflektoren dich blenden. Im Laufe der Nacht werden sie etwas heller, das kennst du schon. Aber heute sind sie anders, als hätten sie es tatsächlich auf deine Augäpfel abgesehen. Was wollen sie von dir, die verdammten Reflektoren? Schließlich bist du derjenige, der sie zum Leuchten bringt. Die sind nur da, um dir den Weg zu weisen. Ohne dich gibt es die doch gar nicht. Sie sind nichts, vergiss sie! Du musst dich konzentrieren und das Lenkrad gut festhalten, doch darin bist du nun wirklich geübt. Kneif die Augen zusammen, Abblendlicht geht jetzt nicht! Stell dir vor, dir kommt einer entgegen. Es wird Zeit, nach Hause zu fahren. Morgen, vor der Schicht, musst du noch in die Waschanlage, und eine Mütze Schlaf wird dir guttun. Diesmal hast du nicht damit gerechnet, diesmal war es praktisch ein Unfall. Es war höchstens ein Reflex. Die Reflektoren sind mindestens genauso daran schuld. Sieh zu, dass du ins Bett kommst. Morgen ist ein neuer Tag.
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Marco H. schaut sich die Filme an, die in den drei kleinen Sälen des Kinos in der Stadt gespielt werden. Er kauft sich eine Musikanlage und stellt sie im roten Zimmer auf. Sein Konto füllt sich regelmäßig, aber er muss darauf achten, nicht zu viel auszugeben. Das Erbe seiner Eltern wurde klug angelegt, und dafür hat er nie aufgehört, dankbar zu sein. Am vierten Abend, den er hintereinander in der Stadt verbringt (er würde keinen der Filme ein zweites Mal sehen wollen), weckt ein Schild sein Interesse, das an einem kleinen Nebengebäude des Bahnhofs hängt:
MITARBEITER IN DER TAXIZENTRALE GESUCHT!
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Die Taxis, immer zwei an der Zahl, stehen in den Abendstunden wie eingesperrte Nashörner träge herum. Ein paar Vögel zwitschern. Ein Spatz sucht auf den schwarzen Windschutzscheiben nach zermatschten Insekten. Die Kirchturmuhr schlägt zur vollen Stunde. Plötzlich tritt das Bahnhofshallenmädchen, diesmal ohne Papiertüte, aus dem Gebäude. Wie ein Baby hält es seine beiden Hände zu Fäusten geballt vor seiner Brust. Langsam lässt es seinen Blick schweifen, unter dem der Bahnhofsvorplatz andere, ungeahnte Dimensionen annimmt und zu einem riesigen Dreh- und Angelpunkt, zu einer offenen Bühne für alles Mögliche und Unmögliche wird. Die Straßenlaternen werden eingeschaltet und lassen die Sommersprossen auf seiner Nase leuchten. Weit und breit ist niemand zu sehen, der auf das Leuchten reagiert. Mit dem einen Auge blickt Marco H. auf das Schild, mit dem anderen schielt er zu dem Kind hinüber. Das Mädchen wirft seinen Kopf in den Nacken, dreht auf den Zehenspitzen des linken Fußes eine gekonnte Pirouette, dann winkt es, mit den Fersen wieder auf dem Boden, den beiden Taxis zu. Zu Marcos Erstaunen antworten diese mit einem synchronen Aufleuchten der Scheinwerfer. Offenbar hat das Mädchen genau diese Reaktion erwartet und hüpft jetzt, mit beiden Armen stärker winkend, auf und ab. Die langen rotbraunen Haare werden dabei in alle Richtungen geschleudert. Bevor es sich auf den Heimweg macht, wirft es den Autos noch eine Kusshand zu. Es ist Zeit fürs Abendbrot, schließlich kann es sich nicht nur von Süßem ernähren. Er bleibt noch kurz vor dem Schild auf dem kleinen Bahnhofsvorplatz mit den beiden Taxis stehen. Hinter den dunklen Windschutzscheiben rührt sich nichts. Die Straßenlaterne surrt wie eine große Motte.
Zuerst sucht er sich eines der Restaurants aus und bestellt Wittgensteiner Krüstchen, ein paniertes Schweineschnitzel mit Champignonsauce und einem Spiegelei, dazu Pommes frites und einen kleinen gemischten Salat mit Joghurtdressing. Dazu trinkt er Pils und blickt aus dem Fenster. In der linken unteren Ecke ist eine kleine grüne Scheibe eingelassen, die ein ebensolches Pils wie das auf seinem Tisch mit der Schaumkrone fünf Millimeter über dem Glasrand zeigt. Hinter dem Glaspils laufen von Zeit zu Zeit die Farbe wechselnde Passanten ihres Weges, wie Chamäleons, nur viel schneller. Nach dem Essen geht er in eine Kneipe, wo er weiter Pils trinkt. Es ist die einzige Kneipe der Stadt, in der Leute etwa seines Alters verkehren, so weit glaubt er sich schon auszukennen. Bei »Fm so lonely and nobody cares at all« trifft sein Blick den
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