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Wittgenstein

Wittgenstein

Titel: Wittgenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raouf Khanfir
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ich ein gutes Wort für dich einlegen. Die Zentrale gehört meinem Onkel.«
    Anne kommt ihm ganz nah und stellt sich auf die Zehenspitzen.
    »Ist doch erstaunlich, oder? Manchmal ist es ganz gut, sich an das zu halten, was man gelesen hat.«
    Auf dem Teppich in ihrem Zimmer liegen eine Million Dinge herum, zwischen denen die Kleider der beiden, einmal ausgezogen, auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ihre Häute, die riesigen Organe, riechen überall anders, je nachdem, welche Prozesse sich unter ihnen abspielen. Der Geruch der Haut an jedem beliebigen Punkt des Körpers wird durch all diese Prozesse mitbestimmt. Nur die Zusammensetzung verändert sich. Haut ist kein Zentrum. Haut hat kein Zentrum. Der Geruch jeder Stelle auf der Haut ist eine Mischung aus mehreren Gerüchen, wobei die Mischung nach den Körperpartien variiert. Aber immer sind alle Körperpartien beteiligt. Und in jedem Raum riecht jeder Körper ein wenig anders. Und all die Dinge auf dem Teppich verströmen Gerüche und vermischen sich mit den Gerüchen der beiden, und es gefällt ihnen, was sie riechen. Und es gibt tatsächlich nicht ein Wort für den nichtigsten unter den Gerüchen, die sie in dieser Nacht riechen.
     
    +++
     
    Ist es nicht ärgerlich zu sehen, wie manche Leute mit ihren Autos umgehen? Wenn sie nicht in der Lage sind, ihre Autos selbst zu waschen, dann sollten ihnen die paar Euro für eine Waschstraße nicht zu viel sein. Überall bist du von Leuten umgeben, denen es aber doch zu viel ist, und überall fahren dreckige Autos durch die Gegend. Sollten sie sich schließlich wider Erwarten doch in eine Waschstraße verirren, kann man darauf wetten, dass sie eine von denen auswählen, die mit Waschbürsten arbeiten. Eine von denen, die das verbrauchte Wasser immer wieder filtern, natürlich unzureichend filtern, so dass ihr Auto mit dem Sand, dem Staub und dem Schmutz der vorherigen Wagen gewaschen wird. Das Dreckwasser wird mit großen Bürsten auf den Lack gerieben, was in etwa die gleiche Wirkung hat, als würden sie ihr Auto zu Hause mit feinem Schmirgelpapier bearbeiten. Da diese Leute ihr Auto jedoch über Monate haben verdrecken lassen, sind sie mit dem Ergebnis der Wagenwäsche naturgemäß zufrieden und fahren glücklich nach Hause. Sich auch nur fünf Minuten in den Dienst einer so funktionstüchtigen Maschine wie ihrem Auto zu stellen, gelingt ihnen nicht. Am Ende tun die Heuchler auch noch so, als ob es ihnen um ihren Wagen ginge. Für den Wagen sind solche Waschstraßen Gift.
    Seit der Staat dir verboten hat, dein Auto zu Hause zu waschen, fährst du einmal wöchentlich die 60 Kilometer zur nächsten Waschstation, die mit Schwämmen arbeitet. Letztlich nutzt du dort meistens eine der überdachten Parzellen, nur selten fehlt es dir an Energie für eine Handwäsche. Nur wenn's mal schnell gehen muss, zum Beispiel weil deine Schicht in der Taxizentrale bald anfängt. Für dich ist das Waschen deines Autos keine Arbeit und weit davon entfernt, eine Last zu sein. Für dich ist das wöchentliche Waschen deines Wagens vielmehr Ausdruck deiner Ausdauer und ein Hort der Lebensfreude. Dasein, ohne darüber nachdenken zu müssen. Autowaschen beruhigt; das Blut läuft gleichmäßiger durch den Körper. Viele der schrecklichen Dinge, die tagtäglich passieren, passierten nicht, wenn stattdessen Autos gewaschen würden.
    An diesem Oktobermorgen machst du einen kleinen Spaziergang am Rand der größeren Provinzstadt, in der sich die Waschstraße deines Vertrauens befindet. Um die Uhrzeit sind nur sehr wenige Leute unterwegs. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, aber du kannst den außerordentlich schönen Tag, der sich am Horizont ankündigt, schon auf der Haut spüren. Dein Wagen steht in der Parzelle bereit, und während die Motorhaube langsam abkühlt, hast du Zeit für eine Tasse Kaffee und ein Lachsbrötchen in einer Bäckerei. Kauend blickst du aus dem Fenster und denkst daran, wie die Welt sich verändert. Vor wenigen Jahren hättest du in keiner normalen Bäckerei ein Lachsbrötchen bekommen, höchstens eins mit Lachsersatz. Deine Eltern gehörten noch einer Generation an, in der nicht wenige Wittgensteiner gestorben sind, ohne jemals vernünftigen Räucherlachs gegessen zu haben. Für deine Mutter war der übertrieben salzige und vollkommen unaromatische Geschmack von Lachsersatz etwas Normales, mit ein bisschen hartgekochtem Hühnerei dekoriert sogar etwas Besonderes. Natürlich liegt auf deinem Brötchen auch kein schottischer

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