Wittgenstein
plätschernder Bach oder ein Fließband in Zeitlupe. Euch bleibt immer Zeit für ein Schwätzchen. Entweder steht ihr an eure Wagen gelehnt vorm Bahnhof und genießt die spärlichen Sonnenstrahlen oder sitzt in der Zentrale bei einem Kaffee. Jeder von euch kann kurz mit den anderen über die Dinge und Themen reden, die ihm auf der Zunge brennen. Ihr seid ein Team und werdet zusammen älter, gesetzter, reifer, und ruhiger. Dein Älter-, Ruhiger-, Reifer- und Gesetzter-Werden spiegelt sich im Älter-, Ruhiger-, Reifer- und Gesetzter-Werden der anderen Fahrer. So vergehen eure Tage in der Zentrale mit immer größerer Selbstverständlichkeit.
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In der Taxizentrale sitzt ihr zu zweit beim ersten Kaffee, als der Kollege mit der Nachricht hereinkommt. Für heute Morgen ist die Belegschaft damit vollzählig. Ihr drei seht übernächtigt aus und seid aschfahl im Gesicht. Du hast zu dieser frühen Tageszeit bereits so viel geraucht, dass deine Kehle gereizt ist, und nimmst einen letzten Schluck aus dem Becher vor dir auf dem Tisch. Günther könnte schon etwas essen, aber er wartet noch, um nicht alles in der ersten Stunde aufgegessen zu haben. Fred kommt mit rotgeäderten Augen herein, das Kinn voller Stoppeln, so dass er genauso kränklich wirkt, wie du dich fühlst.
»Hinten am Winterbach hat man eine Tote gefunden. Lag wohl direkt neben der Hauptstraße. Ist überfahren worden. Hat schon ein paar Tage da gelegen. Bin gerade dran vorbeigefahren. Da ist die Hölle los. Das ist doch kein Zufall mehr, das kann mir doch keiner erzählen.«
Ihr beide starrt Fred an. Er hat recht, das kann kein Zufall sein. Die dritte Fahrerflucht mit tödlichem Ausgang im Laufe eines halben Jahres. »Das gibt's doch nicht«, sagt Günther und kann sich vorstellen, dass es so etwas doch gibt. Das, was Fred mit »kein Zufall« meint, ist Mord in Serie. Jemand, der durch die Gegend fährt und auf der Landstraße Leute überfährt. Fred hat kurz angehalten und mit einem Polizisten, einem ehemaligen Schulkameraden, gesprochen.
»Das Auto hat sie unter einen Busch geschleudert. Es ist ein junges Mädchen, so um die 18 Jahre alt. Genaueres weiß man nicht. War wahrscheinlich auf dem Nachhauseweg von irgendeiner Feier am letzten Wochenende.«
»Das gibt's doch nicht«, krächzt du und wirst anschließend von einem kleineren Hustenanfall geschüttelt, der in so etwas wie ein heiseres Lachen übergeht. Günther schüttelt den Kopf und holt seine Brotdose aus der Tasche.
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»Das mit dem alten Theodor aus Schüllar ist doch erst ein paar Monate her. Und dann der Mann ohne Gesicht im letzten Winter.«
Fred schüttet sich den letzten Rest Kaffee ein. Abwechselnd schaut ihr nach draußen, wo eure Taxis auf Kundschaft warten. Für eine Weile sagt keiner was, innerlich sitzt ihr am Steuer. Ein 18-jähriges Mädchen! Jetzt schüttelst auch du den Kopf. So jung! Es gibt nicht viele Autos, die nachts in dieser Gegend herumfahren. Und es gibt nicht viele Personen, die so spät auf den Landstraßen herumlaufen. Dass man dabei überfahren wird, ist großes Pech, oder großer Zufall. So wie das Mädchen da am Straßenrand lag, die Haare wie eine frisch aus der Erde gerissene Wurzel, scheint jemand dem Zufall jedoch nicht die geringste Möglichkeit gelassen zu haben. Die Klarheit der Fakten macht selbst dich sprachlos. »Er ist uns bestimmt mal begegnet«, sagt Fred schließlich. »Wer?« Günther kaut auf seinem Butterbrot und schaut seinen Kollegen erstaunt an.
»Na, der, der die Leute überfährt. Er ist uns bestimmt nachts mal entgegengekommen, oder wir haben ihn überholt.«
Ihr nickt. Jetzt, wo Fred es sagt. Einer der vielen Vorteile von Taxifahren auf dem Land ist es, nachts zumeist allein auf der Straße zu sein. Vor den wenigen anderen Verkehrsteilnehmern sollte man sich zu späterer Stunde jedoch in Acht nehmen. Es könnten immer ein paar besoffene Jungen, kurz vor einem Unfall, grölend in den entgegenkommenden Autos sitzen. Meist sind es Unfälle der schlimmeren Sorte. Jeder von euch hat schon mindestens einen dieser tödlichen Unfälle gesehen. Hat vor so einem Autowrack gestanden, in denen die Körper mit der Inneneinrichtung verschmolzen sind, wie eine Schlange und ein Kind oder fünf Schlangen und drei Kinder. Als Taxifahrer achtet ihr besonders auf entgegenkommende Fahrzeuge. »Mir ist nie irgendwas aufgefallen«, sagt Günther kauend. Das kannst du nur bestätigen. Was soll einem da auffallen? Ein Auto, das durch die
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